Lockdown 2020

V. Spatzenlärm

Betrachtungen eines Literaturwissenschaftlers in der Übergangszeit, 5. Teil

Zwischen Koppel, Wiese und Acker zieht sich, eine kleine Biegung um einen dicht belaubten Lindenbaum nehmend, ein kiesiger zweispuriger Landwirtschaftsweg den Hügel hinauf, stösst dort auf eine weitere, aber etwas weniger breit ausladende Linde. Links des Baumes fällt das Gelände einige Meter steil ab, rechts hebt sich im sanften Schwung eine Wiese, hinter welcher sich nur der gerade grau bewölkte Himmel erstreckt. Mit Blick in die Siedlung steht eine Bank unter dem Baum, und es braucht nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, dass hier schon viele erste Zigaretten geraucht, Joints gedreht und Küsse getauscht worden sind. Jetzt sind Bank und Weg und Wiese leer. Meine Hündin und ich gehen an der Linde vorbei: links am Hang das niedrige Gehölz, das ich liebe, weil es mich an die Knicklandschaft aus Kindertagen erinnert, rechts die Wiese, die jetzt feucht und schwergrün leicht ansteigt, gesprenkelt von einem Meer unzähliger weisser oder eher noch sehr heller grauer Punkte. Pusteblumenzeit.

Als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Gerade schrieb ich noch von den vielen sonnengelben Löwenzahnflecken.

Die Zeit vergeht. Sie vergeht immer. Ob ich sie jetzt als schneller oder langsamer vergehend empfinde, vermag ich nicht zu sagen. Es ist mehr so, als würde ich im Vergehen der Zeit von Blättern, kleinen Zweigen gestreift, als sei das Gehen näher an der Klebrigkeit des Bodens und als ströme eine dickere Luft spürbarer im Atem. Ich bin ganz sicher: Die Luft hat eine festere Konsistenz.

Es sei bemerkenswert, wie die Spatzen auf die Corona-Krise reagierten. Sie seien viel aufgeregter und lauter. So die Beobachtung in nicht nur einem Internetforum. In meinem Garten schreien die Spatzen wild durcheinander, spotten und scherzen, warnen und balzen – keine Ahnung, was Spatzen tatsächlich alles beschreien. Die Spatzen lärmen so, als wäre es Frühling… und es ist Frühling. Sie schreien, wie ich sie sonst nur am Sonntag schreien höre, und im siebenten Frühjahr in diesem Haus habe ich mich daran gewöhnt. Sie würden mir fehlen, schimpften sie nicht wie … wie Spatzen eben.

Es lohnt sich immer enttäuscht zu werden. Selbst in den ganz kleinen Dingen, wenn man merkt, dass einem das Alltägliche fremd geworden ist, also die in jedem Frühjahr aufgeregt lärmenden Spatzen ohrenkundig werden. Dann kann man das eigene verfremdete Leben förmlich hören … Und spüren kann man es auch: beim Gehen, beim Atmen, bei jeder Berührung mit der Vegetation.

Dass es endlich geregnet hat, ist ein Segen, und mir ist, als könne ich es fühlen, wie sich die Wurzeln im feuchten Boden ausstrecken, alles Grün sich vor Nässe zur Nässe hinunterbeugt. Unser Spaziergang ist ein grosses Home Office Glück – eine schöne Pause zur Erholung der trockenen Bildschirmaugen und des Rückens, der mit dem nicht wirklich geeigneten Stuhl am Schreibtisch hadert. An die Freiheit der Spaziergänge haben wir uns gewöhnt wie an das Teetrinken, die Yoga-Übungen am Morgen und sogar an die langen Arbeitstage, die durch keine Pendlerstrecken, Mittagsverabredungen oder Flurgespräche unterbrochen werden. Auch an den Gartensitzplatz, an dem sich an Sonnentagen spatzenbelärmt arbeiten lässt.

Ich wünschte mir aber schon einmal Kolleg*innen dazu.

Allmählich breitet sich eine neue Geschäftigkeit aus. An den Universitäten gilt weiterhin die Empfehlung, zuhause zu arbeiten. Die Lehre findet im ganzen Semester digital statt. In vielen anderen Bereichen öffnet sich das Leben wieder. Im Supermarkt war es so voll wie seit Wochen nicht mehr. Man hört wieder Strassenlärm, und bald werden die Züge in normaler Frequenz am Fenster vorbeifahren. Schon jetzt sitzen mehr Personen in den Abteilen.

In der Vorlesung las ich, nun wieder zuhause, vor einer roten Wand, die mir dafür einigermassen geeignet schien, über Karl Gutzkows Novelle Eine Phantasieliebe, die ursprünglich nach ihrer Hauptfigur Imagina oder Imagina Unruh hiess. Die Erzählung ist nicht mehr allzu bekannt, aber als Initiationsgeschichte einer Künstlerin neben so vielen männlichen Initationsgeschichten allemal lesenswert. Imagina wird als Kind durch den verwitweten Vater so gut wie nicht erzogen und lebt in einer eigenen Märchenwelt, zu der sowohl ein Prinz als auch der Höllenfürst gehören. Damit das verträumte Mädchen, ein Naturkind, endlich gezähmt werden kann, muss es verheiratet werden. Der Vater sucht hierfür den Grafen August aus und schliesst mit dessen Vater einen Kontrakt auf dem Wollmarkt. Hinter allem blitzt die Ironie des Erzählers auf. Eine der schönsten Passagen ist die Hochzeitsreise des jungen Paares. Imagina soll auf dieser Reise das Kunststück vollbringen, aus ihrer Märchen- und Mädchenwelt in die Welt der Ehe und der schönen Reichen überzutreten. Der oberflächliche Graf und Lebemann durcheilt mit seiner frisch angetrauten Gattin in eigener Kutsche oder auch einem Eisenbahnwagon erster Klasse damalige Hotspots wie Luther- und Goethestätten, um – so das Ziel des Grafen – in einen jener deutschen Badeorte zu fahren, wie sie noch Dostojewski in seinem Roman Der Spielerbeschreibt.

Imaginas lebendige Phantasie hält mit dem Tempo des Grafen nicht mit. Sie schreibt ein Reisetagebuch, in welches sie an jeder Station zunächst nur wenige Worte notiert. Erst in Baden-Baden kommt Imagina dazu, diese Notizen auszuführen, und sehr intensiv lebt sie die Reisestationen dabei nach. Freilich hat dies zur Folge, dass sie körperlich in Baden-Baden weilt, mit Herz und Geist aber noch in einer der Zwischenstationen. Dem modernen schönen Lebemann Graf August dagegen geht es nicht schnell genug. Er entschwindet umgehend in das gesellschaftliche Leben des Badeortes, und beide werden hier auch nur noch momenthaft sich am gleichen Ort befinden.

Wie wird es sein? Wie wird es sein, wenn sich das Leben der einen nach und nach wieder in den Gleisen des Vorher bewegt, während die anderen im Home Office bleiben? Werden wir Dozierenden an den Hochschulen wie lauter Imaginas in einer Welt von digitalen Lehrveranstaltungen, mehrstündigen Switch- oder Zoom-Meetings und Skype-Sprechstunden leben, während andere schon wieder in Büros und Nahverkehrszügen sitzen? Ich stelle mir vor, wie in den Supermärkten die eiligen Abendeinkäufer*innen, die noch schnell etwas zum z’Nacht brauchen und schon am Gemüsestand die günstigste Kasse aussuchen, auf die gelassenen Homeofficemenschen treffen, die sich im anhaltenden Social-Distancing-Modus befinden und womöglich immer noch zu Hamsterkäufen neigen. Werden wir am Ende in der gleichen Zeit physisch und psychisch ankommen? Und welche wird es sein? Die Welt in der Logik des Vorher? Die Realität der zweiten Welle? Eine neue Logik des Nachher, an der die intellektuellen Astrologen seit Wochen herumdeuteln? Es kündigen sich Verschiebungen an: eine Drift, die Zeit und Ort verschiebt, eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen schafft. Das weckt schon jetzt Ungeduldige, die den vorübergehenden Meinungsfrieden nicht aushalten. Seit Tagen schon wird die für einmal angeklungene kollektive Vernunft brüchiger; in jeder Zeitung sagt einer oder eine ‘Ade, Vernunft’ und wechselt die Seite.

Gefühle des Übergangs. Da ist sie mit Händen zu greifen: die eigene aufsteigende Unruhe.

Imagina hat Glück. Sie darf sich von den Mädchenphantasien emanzipieren, die ihr Leben und Erleben gefangen hielten, aber sie kann auch der Ehe und der Welt der Schönen und Reichen entgehen. Ihr Glück ist es, weder mit dem Grafen noch mit dem Prinzen der Träume eine Ehe führen zu müssen und sich als freie Frau der Kunst widmen zu können.

Während der Computer rechnet, um die nächste Vorlesungssequenz in eine Videodatei zu konvertieren, die dann auf die Lernplattform hochzuladen ist, gehe ich in den Garten. Es regnet leicht, und ein sanfter Wind geht. Ich bitte, es möge am Wetter liegen, dass die Spatzen jetzt leiser sind. Der Himmel ist grau und der Garten unglaublich grün. Ich sollte barfuss gehen.

(Erstpublikation: Universität Bern in Zeiten Coronas.)

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Christian von Zimmermann ist Dozent für Neuere Deutsche Literatur und Editionsphilologie am Institut für Germanistik und am Walter Benjamin Kolleg der Universität Bern.
Seit 2020 führt er den Blog "LITERATURFORUM.CH". Auskünfte über seine akademische Tätigkeit gibt auch die private Homepage: vonzimmermann.ch