Lockdown 2020

II. Blaue Tomaten. Oder: Agamben, Trump und Griechenland.

Gedanken eines Literaturwissenschaftlers in der Selbstisolation, 2. Teil

Wenn ich meine Eltern anrufe, die man aufgrund der Geburtsjahrgänge, die in ihren Ausweisen stehen, jedenfalls dann, wenn man sie nicht vor Augen hat und nicht hört, die man dann also irgendwie alt nennen könnte, antwortet meine Mutter mit dieser provozierenden Stimme: «jaha, wir leben noch!» Nun sind diese Eltern eines inzwischen auch in etwa der Alterklasse ‘alter weisser Mann’ angehörenden Sohnes aber nicht eigentlich betagt, sondern eher ständig unterwegs, haben einen rege aktiven Freundeskreis und zudem Kinder und Enkelkinder am Ort. Diese meine bewegten Eltern sind nun, weil sie selbst und die ihnen nahen Menschen dies übereinstimmend für vernünftig halten, weitgehend isoliert, machen aber durchaus einsame Spaziergänge in naher Natur.

Ob Giorgio Agamben Eltern hat, um die er sich Sorgen macht, und von diesen auch mit einem deutungsoffenen «jaha, wir leben noch» begrüsst wird, weiss ich nicht. Während ich zwischen ZOOM-Konferenzen, digitalen Seminarvorbereitungen, literweise Earl Grey-Tee (mit Hafermilch) und natürlich auch Home Schooling und Sonnenbalkon mein Leben im Home Office führe, macht sich Agamben Gedanken. Er fragt sich zum Beispiel: «Wie konnte es so weit kommen, dass angesichts einer Krankheit, deren Schwere ich nicht beurteilen kann, die aber bestimmt keine Pest ist, eine ganze Gesellschaft das Bedürfnis verspürte, sich verpestet oder verseucht zu fühlen, sich in den Häusern zu isolieren und die normalen Lebensbedingungen zu suspendieren, also ihre Arbeitsverhältnisse, ihre Freundschafts- und Liebesbeziehungen und sogar ihre religiösen und politischen Überzeugungen?» Seine Antwort auf die syntaktisch ganz und gar beeindruckend lange und daher differenziert wirkende Frage beginnt in der deutschen Fassung mit meinem Lieblingswort. «Offensichtlich ist es so, dass es die Seuche irgendwie, wenn auch nur unbewusst, bereits gab.»(AGAMBEN)Giorgio Agamben, Zur Corona-Krise: Wir sollten uns weniger sorgen und mehr denken, in: https://www.nzz.ch/feuilleton/giorgio-agamben-zur-coronakrise-wir-sollten-uns-weniger-sorgen-und-mehr-nachdenken-ld.1550672

Meine Eltern habe ich nie täglich angerufen. Manchmal habe ich den Eindruck, meine Mutter reagiere schon eher genervt auf die plötzlich so regelmässigen Telefonate, deren Privatthema sich rasch erschöpft, da sich in der ihrerseits altersbedingt, meinerseits aufgrund eines nahen ungetesteten Krankheitsfalls eher übervorsichtig eingehaltenen Selbstisolation nicht allzu viel ereignet: «jaha, wir leben noch». Wir reden also nur kurz über Covid-19. Dann lenkt meine Mutter das Gespräch auf Griechenland, das Drama der Flüchtlinge, der Kinder, denen niemand hilft. Wir glauben beide, dass die deutsche Bundeskanzlerin damals richtig gehandelt hat und dass sie wieder bedingungslos humanitär handeln würde, wenn der Rechtspopulismus nicht jede Mitmenschlichkeit unter das Damoklesschwert seiner Wiederauferstehung gestellt hätte. Das glauben wir, und wir sind dem Virus auch dankbar, dass es ebendiesen Rechtspopulismus zur Zeit aus den Medien gedrängt hat. Niemand von uns beiden hat je am Stammtisch politisiert; vielleicht würden wir dort dann verkünden, es sei offensichtlich diesem Rechtspopulismus, der die verbliebenen liberal denkenden Regierungen Europas in Angst und Schrecken versetze, geschuldet, dass mitmenschliches Handeln unterbleibe. Vielleicht hätten wir sogar recht.

In der Selbstisolation ist die Freundin der Mutter meiner drei grossen Kindern für mich einkaufen gegangen. Meine Eltern lassen sich von meiner Schwester die Einkäufe vor die Tür stellen. Wenn es das heimliche Unbehagen an den durchseuchten Anderen zuvor gegeben hat, dann, lieber Giorgio Agamben, haben wir diese mentale Seuche offensichtlich überstanden; jedenfalls hat sie diese beiden Frauen nicht erreicht, die ihre Freundschafts- und Familienbeziehungen intensivieren und einfach helfen. Für dieses zuvor nur erahnte Potenzial an Mitmenschlichkeit bin ich dankbar.

Manchmal, wenn ich in meiner Selbstisolation sitze, könnte ich auch auf Gedanken kommen. Ich könnte mir etwa denken: «Wie konnte es so weit kommen, dass es in Italien nur noch blaue Tomaten gibt?» Und ich würde antworten: «Offensichtlich ist es so, weil es die Bläue irgendwie, wenn auch nur unbewusst bereits gab.» Natürlich – auch so ein Lieblingswort – könnte man, wenn man nicht gerade in Selbstisolation lebte – hinausgehen und in den trotz allem mit italienischen Tomaten gesegneten Supermärkten die These einer ausnahmslosen Tomatenbläue widerlegen, wie man auch jede andere Gedankenkonstruktion prüfen könnte. Man, also jede einzelne Person, könnte sich zum Beispiel fragen, ob sie sich durchseucht und verpestet fühlt. Allerdings ist der Gedanke an eine stets übersehene, aber immerschon vorhandene Tomatenbläue so reizend, dass er jede Selbstisolation lohnenswert erscheinen lässt. In meinem intellektuellen Merzbau jedenfalls gäbe es einen Schrein für blaue Tomaten.

Es ist erstaunlich wie viel Selbstdisziplin und Selbstverantwortung Kinder in kürzester Zeit im Lockdown lernen. Sie sitzen zu Schulzeiten am Esstisch und bearbeiten die Wochenpläne einsatzfreudiger Lehrpersonen oder warten auf digitale Schullektionen im Chatroom. Es ist überaus überraschend, wie diese Kinder ihre von der Gesellschaft als normal oktroyierten Lebensbedingungen ohne Weiteres suspendieren – und gar noch einen Vorteil daraus ziehen.

Meistens übrigens habe ich in der Selbstisolation keine besonderen Gedanken. Ich habe genug damit zu tun, meine neue Spiessigkeit zu leben, denn ich stelle fest, dass es mir wichtig ist, morgens zur normalen Zeit aufzustehen, im Home Office beruflich angemessen gekleidet zu sein und ähnliche Dinge mehr. Ausserdem ist es warm und frühlingshaft und der Genuss wärmender Sonnenstrahlen auf meiner Winterhaut ermöglicht eine durchaus angenehme Anwesenheit im eigenen Körper.

Leider geht es auch mir so, dass ich diese Momente nicht einfach festhalten kann, sondern zum Smartphone greife, um Pandemie-Deutungen zu lesen. Zu meinen Lieblingsseiten gehören digitale Feuilletons und Weltanschaulichkeiten. Dem anthroposophischen Arzt Georg Soldner, der im Goetheanum über das Virus berichtet,(Soldner)Georg Soldner, Das Coronavirus, in: https://goetheanum.co/de/nachrichten/das-coronavirus muss man immerhin zu Gute halten, dass er weitgehend richtig die bisherigen medizinischen Erkenntnisse wiedergibt und immerhin nur mit ein bisschen Weltanschauungsfarbe nachhilft. Das Virus befalle jedenfalls nur Menschen, die aufgrund ihres Alters oder anderer Lebensuntüchtigkeit zu sehr im Geist und zu wenig im Leib beheimatet seien. Ausserdem helfe vorbeugend, die Lunge mit Sonne und Erde in Verbindung zu setzen und soziale Spannungen abzubauen. Dies ist an der Oberfläche ganz harmlos und wahrscheinlich unschädlich, aber es ist jedenfalls ein reines Geistesprodukt (das freilich die Rudimente einer brachialen Moralkeule in sich trägt). Ob es das Virus nun eher auf Geistmenschen als auf Leibmenschen abgesehen hat, mag einmal das statistische Material erweisen, wenn es einmal hinreichende Kriterien geben sollte, nach denen man diese Menschentypen unterscheiden kann. Hinreichend belegt ist freilich, dass das Virus den Gedankenstrom vieler vermutlicher ‘Geistmenschen’ beflügelt. Dies zeigen die zahllosen Virustheorien, in denen das Virus für jedwede soziale ‘Krankheit’ der Gegenwart und jedwede Dystopie oder Utopie herhalten muss.

Von sich selbst zu reden, ginge ja immer. Am zweiten Tag im Home Office stand mir das Bild einer nicht wieder umkehrbaren Schwellensituation vor Augen: Nie wieder werde die Welt danach so sein, wie die Welt davor. Am vierten Tag hatte ich mich einigermassen davon erholt, befürchtete aber nun, dass menschliche Trägheit dafür sorgen werde, dass in kürzester Zeit alles wieder beim Alten wäre. Während ich dies alles erwog, duftete die Sternmagnolie im Garten tief süsslich, und ich verzichtete im Home Office immer häufiger darauf, Schuhe, Hausschuhe oder Strümpfe zu tragen. Und irgendwie schämte ich mich dann, dass ich mich in Gedanken darüber verloren hatte, wie die Welt womöglich – verändert oder träge und unverändert – einmal aussehen würde, während der Frühling Grashalme durch meine Zehen schob und in Griechenland Flüchtlinge nach wie vor ganz reales Leid erfahren.

Lieber Giorgio Agamben, ich weiss, dass Sie nicht bei Ihrer Ausgangsfrage stehen geblieben sind. Sie philosophieren auch über die Wissenschaft als neue, nackte Religion, und sie haben das Gefühl, dass wir zu einer Anticanettimasse werden, einer Masse, die nicht durch Überwindung von Berührungsängsten, sondern durch gleichförmige Distanziertheit im Social Distancing entsteht. Das liest sich ganz flüssig, wenn man einmal die erste rhetorische Frage und den offensichtlichen Schluss akzeptiert hat; auch die Handlungsanweisungen von Georg Soldner sind konsequent, wenn man die anthroposophische Vorannahme für einmal als gegeben voraussetzt. Mich erinnert das in diesem Moment an Donald Trump, der gerade lieber Arzt geworden wäre, offenbar weil er dann mit einem Antimalariamittel das Wunder der Massenheilung erbringen könnte. Gut, der Bezug ist weder natürlich noch offensichtlich, aber irgendwie kann ich gerade den Ludwig Feuerbach gut leiden, der das Bedürfnis des Menschen, über das konkret Erfahrbare hinauszugehen, beargwöhnt hat, und als Religion das Bedürfnis beschrieb, den Dingen einen Ursprung, eine verantwortliche Instanz dahinter, zuzuschreiben; und der in seiner Welt befangene Mensch schreibe nun der Welt also eine verantwortliche Instanz zu, die der Vernunft dieses Menschen sehr ähnlich sei. Wir sehen ja trotz allem nicht viel von der Welt und können, um alles zu begreifen, ja nur unseren begrenzten Verstand hochrechnen. Wir machen uns dann zu unserer eigenen Religion, also zu einer Form der Selbstgerechtigkeit. Die Sehnsucht nach Religion in diesem Sinn ist gross. Sie zeigt sich als Feuilletonreligion oder als Weltanschauungsreligion oder als Allmachtsphantasie. Und auch darin haben Sie recht: Das Virus bringt etwas zum Vorschein, dass längst schon angelegt war. Persönlich würde ich es niemandem verübeln, der angesichts der Behauptung, es gebe nur noch blaue Tomaten mit kruder Empirie und nackter Wissenschaft antworten würde, es gebe zwar einzelne Sorten, die man freilich blau nenne, aber erstens seien die meisten Tomaten nach wie vor rot, zweitens seien blaue Tomaten nicht blau.

Ich sehe noch nicht klar. Ich schlage darum vor, eine Weile durch das Frühlingsgras zu gehen und wach zu sein für alle Dinge, die gerade passieren, ohne sie gedanklich zu vereinnahmen. In dem Land, in dem ich lebe, vertraue ich darauf, dass in dieser Situation nicht weltanschaulich, sondern nüchtern und wissenschaftsnah gehandelt wird. Ich habe keine besondere Angst vor dem Virus und nicht davor, meine Freiheitsrechte vorübergehend an Strukturen abzutreten, die diese Gesellschaft in freier Entscheidung gerade für solche Belastungssituationen geschaffen hat. (Gewiss, wir werden reden müssen: über Datenschutz etwa oder über die Systemrelevanz von Kultur.) Ich bin aber auch überzeugt, dass viele bereit wären, diese Strukturen und diese Freiheit mit aller Kraft zu schützen, so wie viele jetzt bereit sind, sich selbst einzuschränken, um Anderen nicht zu schaden.

Einstweilen geniesse ich die besondere Nähe zu meinen Kindern, zu ausgewählten Menschen, und ich hoffe, dass unsere neu gewonnene Mitmenschlichkeit solche Wellen schlägt, dass wir endlich auch die Flüchtlingsfrage humanitär lösen können.

(Diese Betrachtungen wurden aufgrund eines nahen ungeprüften Verdachtsfalls in der Selbstisolation geschrieben.)

(Erstpublikation: Universität Bern in Zeiten Coronas.)

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Christian von Zimmermann ist Dozent für Neuere Deutsche Literatur und Editionsphilologie am Institut für Germanistik und am Walter Benjamin Kolleg der Universität Bern.
Seit 2020 führt er den Blog "LITERATURFORUM.CH". Auskünfte über seine akademische Tätigkeit gibt auch die private Homepage: vonzimmermann.ch