Beim Lesen

Dezembermoment

So hügelan die Schritte setzen. Jemand vom nahen Bauernhof hat die Radspuren des ausgefahrenen Feldwegs mit faustgrossen runden Steinen gefüllt. Nun fliesst das Schmelzwasser der schütteren Schneedecke durch die Lücken zwischen den grauen, im klaren Wasser heller gänzenden Steinen. Die felligen Pfoten meines vierbeinigen Begleiters pflatschen durch das kalte Wasser. Überall Tropfgeräusche, obwohl es nicht regnet. Das Wasser fliesst von Bäumen, Zäunen und Sträuchern. Die Wahrnehmung des Moments ist eher nach innen oder eher auf die eigene Aussenfläche gerichtet. Die Finger sind klamm, die Füsse warm im festen Schuhwerk. Schritte müssen sorgsam gesetzt werden, der Boden ist nass, matschig und rutschig. Rings weiss und grau. Grau in vielen Schattierungen. Mit breit wirkenden Schwingen erhebt sich eine schwarze Krähe und zieht mit wenigen Schlägen knapp über dem weissen Schnee bis zur Siedlung. Dort steigt sie auf, verhakt sich zunächst in einem winterlich kahlen Baum und zieht dann auf ein nahes Hausdach weiter. Im Strauchwerk Amseln und Spatzen, die sich plustern und die gefundene Wärme nicht für den Spaziergänger mit seinem Hund aufgeben wollen. Ich zähle fünf Amseln; die Spatzen flattern dann doch durch das Geäst ausser Sichtweite.

Endlich kam das lang ersehnte Buch mit der Post an: Louise Glück, Poems 1962–2012 (New York 2013). Ein poetisches Lebenswerk auf über 600 Seiten. Nobelpreisträgerin des Jahres 2020, von der auch ich noch nie gehört hatte. Aber das ist ja eigentlich schön. So lassen sich Entdeckungen machen.

This is the moment when you see again
the red berries of the mountain ash
and in the dark sky
the birds’ night migrations.

(Louise Glück, The Night Migrations. In: Poems 1962–2012. New York 2013, S. 489, Verse 1–4)

»This is the moment«, ein Moment unmittelbarer Erfahrung mit konkret sichtbaren Dingen, die gerade sich ereignen. Eine Spaziergängerin kommt uns, also meinem Hund und mir, mit entschlossenem Schritt entgegen, geht vorbei. Die Farbe ihrer Winterjacke kontrastiert das Weiss und Grau, während sich, weil ich die sanfte Höhe erreicht habe und der Weg sich wieder zu senken beginnt, der Blick in die verschneite Niederung öffnet. Die Wiesenpfähle als dunkle Striche im Weiss, der Ruf einer Gabelweihe, Rauch vom Schornstein des nahen Hofes.

It grieves me to think
the dead won’t see them –
these things we depend on,
they disappear.

(Louise Glück, The Night Migrations. In: Poems 1962–2012. New York 2013, S. 489, Verse 5–8)

Louise Glück publizierte dies Gedicht in ihrem Band Averno (2006); sie war damals 62/63 Jahre alt. Also etwas älter als ich jetzt. Am Leben und am Moment hängend wie ich selbst – als Trost nämlich, der den Gestorbenen nicht zugänglich ist. Die Ewigkeit des Nichtseins kennt ja vielleicht kein Jetzt, keinen Moment, keinen Anker in der unmittelbaren Wahrnehmung der Farbspiele, der Lebensäusserungen der Natur. Nicht einmal das mich begleitende Pflatschen der Hundepfoten, das dann aufhört als wir auf den fester ausgefahrenen Fahrweg kommen, der zum nächsten Gehöft führt.

What will the soul do for solace then?
I tell myself maybe it won’t need
these pleasures anymore;
maybe just not being is simply enough,
hard as that is to imagine.

(Louise Glück, The Night Migrations. In: Poems 1962–2012. New York 2013, S. 489, Verse 9–13)

An der entscheidenden Stelle steht das Ich: „I tell myself“. Sterblichkeit lässt sich nicht abstrakt denken, nur im Bezug auf die Möglichkeit des eigenen Nichtseins. Es ist mir überhaupt nur zugänglich, denke ich, wenn ich das punktuell wahrgenommene Jetzt, den Moment als die Möglichkeit des Nie erahnen kann. Mehr nicht, kein Einblick in die Negation der Jetztexistenz. Vielleicht reicht das aus, also einfach das Nichtsein. Das klingt ja auch fast wie ein Trost, vor allem aber ist es eine Bekräftigung der Grenze: „hard as that is to imagine“ – im doppelten Sinn, weil man es sich eben auch gar nicht vorstellen kann.

An anderen Tagen in diesem Dezember war die Sicht eng begrenzt vor grauem Dunst. Spaziergänge durchs Weiss in einer dunstigen Glocke, die Sicht auf Fernes abschliessend.

Am ersten Schneetag konnte ich das Wetter hören: scharrende Schneeschaufeln und klirrendes Kinderlachen. Klare und isolierte Laute, wie sie nur ein Schneetag in Szene setzen kann. Da weiss ich, dass es geschneit hat, ohne den Blick noch ins Draussen gerichtet zu haben.

Was machen wir aber mit dem Tod? Wenn er fünftausendfach auftritt? Und schon wieder weit mehr als fünftausendfach in diesem Land in diesem Coronajahr in vielen Familien?

Man kann zum Beispiel Kerzen anzünden, etwa fünftausend, etwa auf dem Bundesplatz in Bern. Fünftausendfach flackern in einem gleichmässig verteilten Punkteteppich die Kerzenlichter. Dabei gewesen zu sein, ist gar nicht notwendig. Das kann man ja spüren. Also man kann sich ja in Einen hineinversetzen, der mit seinen Handschuhen bei kaltem Wetter Kerze für Kerze auf den Boden stellt. Man kennt das Gefühl, also seine Details. Das Gefühl der Handschuhe, die Berührung der Friedhofskerzen, die kalte Nasenspitze, die schwitzige Stirn bei der Bewegung in der Kälte und auch das Gefühl des Mitgefühls mit jedem einzelnen in einer solchen Kerze symbolisierten Menschenlebens, das verloschen ist – wer weiss unter welchen Umständen.

Vielleicht sollte ich Du schreiben, nicht man. Also dieses norddeutsche Man, das eben Du heisst, und dem Du nicht so einfach ausweichen kannst wie dem Man eben. Das kannst Du ja spüren …

Die Zeitungsberichte über diese Geste begleiteten Kommentare über das natürliche Sterben alter Menschen, das nicht zu beweinen sei, zumal die meisten Pandemieopfer ja eh bald gestorben wären (Studien, die das stützen würden, werden nicht genannt, mir bekannte Studien sprechen eher von mehreren Jahren). Sie schwadronieren über die angeblich normale Sterblichkeit in der Grippesaison, reden die Übersterblichkeit klein und schreiben, man klage ja auch nicht über Verkehrstote und Grippetote (obwohl es seit Jahrzehnten eine erfolgreiche Verkehrspolitik gegen die früher weit höhere Zahl der Verkehrstoten gibt und alljährlich vor möglichen Gripperisiken gewarnt wird, um zur Impfung aufzufordern). Sie führen hier und andernorts Klagen über den Raub an der persönlichen Freiheit, das Risiko einer Ansteckung selbst zu wählen. Sie sagen dies auch für die Ohren trauernder Hinterbliebener.

Mir kann es ja fast egal sein, was jemand in diesem Zusammenhang für eine Meinung zum Virus glaubt, äussern zu müssen. Gut, eben nur fast. Situationsanalyse, wissenschaftlich fundierte Faktizität im Rahmen des Erkenntnisstandes und eine gesunde Einschätzung der eigenen Erkenntnismöglichkeiten wären mir lieber. Mitleid erregen vor allem jene, die sich als Andersdenkende gerne inszenieren wollen, aber schon am Mitgefühl, diesem sine qua non der Humanität, scheitern.

Mir tut es sehr, sehr leid, dass so viele ihre Angehörigen verloren haben und manche gar entfernt von den ihnen nahen Menschen haben sterben müssen. Mir tut es auch sehr leid, dass manche mir näheren Menschen aus anderen Ursachen Verwandte verloren haben und unter Pandemiebedingungen beerdigen mussten – in aller Stille und mit vielerlei Vorkehrungen.

Es sei, so werfen jene ein, ganz natürlich, dass man sterbe, man werde ja auch geboren und damit schliesse man einen Vertrag auf den Tod ab. Ja, das könnte immerhin ein erster Schritt zu Erkenntnis und Lebensweisheit sein. Aber diejenigen, die angesichts des Todes der Vielen ihr Mitgefühl, geschweige denn ihre Trauer, nicht zeigen können, sind ja wohl doch auch dieselben, die freudig die Geburt ihrer Kinder begrüssen, ihr Paarungsverhalten mit kirchlichen und ausserkirchlichen Zeremonien feiern, einen Liebeskummer, eine Trennung haltlos betrauern und es beim eigenen 50. mal so richtig krachen lassen. Es ist ja dann doch nur der Tod der Anderen, dem sie ausweichen. Angesichts des Sterbens so Vieler flüchten sie sich in Zweideutigkeiten.

Das «man stirbt» verbreitet die Meinung, der Tod treffe gleichsam das Man. Die öffentliche Daseinsauslegung sagt: «man stirbt», weil damit jeder andere und man selbst sich einreden kann: je nicht gerade ich; denn dieses Man ist Niemand. Das «Sterben» wird auf ein Vorkommnis nivelliert, das zwar das Dasein trifft, aber niemandem eigens zugehört. Wenn je dem Gerede die Zweideutigkeit eignet, dann dieser Rede vom Tode. Das Sterben, das wesenhaft unvertretbar das meine ist, wird in ein öffentlich vorkommendes Ereignis verkehrt, das dem Man begegnet.

(Martin Heidegger, Sein und Zeit. Zit. nach: Der Tod in der Moderne. Hg. von Hans Ebeling. Frankfurt am Main 1984, S. 45f.)

Ich nehme jenen die abgeklärte Haltung höherer Lebensweisheit, die mit Gleichmut und Gelassenheit auf Leben und Tod, auf Freude und Leid zu schauen vermag, schlicht nicht ab. Allerdings aber die mangelnde Herzenserziehung.

Eigentlich sind die ja auch komisch. Also so komisch, wie die Figuren in Leo Tolstojs Novelle vom Tod des Ivan Iljitsch, welche die ganze Hilflosigkeit des Menschen im Umgang mit Sterben, Tod und Trauer so tiefgründig vor Augen führt: Der Tod wird auf Distanz gehalten, bleibt immer der Tod der Anderen. Nur wer seine eigene Sterblichkeit zu denken versucht, «hard as that is to imagine», ist wohl auch fähig zum Mitgefühl.

Auf das Kerzenmeer kannst Du Deinen Blick richten, und sei es nur in Gedanken, weil es ja doch nicht – zumindest nicht massenweise – möglich ist, vor Ort zu sein. Aber Du weisst es ja, wie das aussieht so ein Lichtermeer und wie es sich anfühlt, wenn Du in der Kälte mit dem langen grauen Mantel – die Hände, weil Du die Handschuhe vergessen hast, tief in den Manteltaschen vergraben – mit stadtfestem Schuhwerk auf dem Bundesplatz stehst und unter der Maske, die Du vielleicht trägst, sich Dunsttropfen sammeln. Und Du kannst das ja fast wahrnehmen, also wie Dein Blick über die Kerzen geht und Du an die Pandemieopfer denkst, in diesem Moment bis zur Peinlichkeit überfordert darin, die Trauer so Vieler zu teilen, und doch voller Mitgefühl – zumindest für den Moment alle Polemik aussetzend.

»This is the moment when you see again …«

Ein kurzes Ahnen, dass das viele Jetztsein zu ebenso vielem Niewieder geworden ist.

Dann blicken wir uns um, versprechen uns, daran teilzuhaben, dass die Zahlen der Opfer begrenzt bleiben, und blicken zugleich besorgt und belustigt auf jene, die in ihrer kleinmenschlichen Wut sich gegen alles verhärten: gegen den Moment, gegen das Mitgefühl, gegen die Solidarität, gegen das Erahnen eigener Sterblichkeit, dem sie mit dem Fingerzeig auf den nicht zu beweinenden Tod der Anderen ausweichen. Wer so in jedem Moment unzufrieden ist, sucht sich eben ein Ventil, um die eigene mangelnde Herzbildung in Social Media-Kanälen in die Welt zu rufen, auf der Strasse Fäuste zu schütteln und denen zu drohen, die in der Krise Verantwortung übernehmen. Ach, diese unmündigen Köpfe mit ihrer unruhigen Unfähigkeit, diesen Moment zu leben.

Es ist ja auch menschlich diese Alltäglichkeit der Todesverdrängung, der Unruhe im Augenblick, der Langeweile, der Ulidigkeit. Mit Vergnügen denke ich an andere Verse von Louise Glück, die ihr ganz eigenes Gespür für die menschliche Ungeduld hat:

It’s natural to be tired of earth.
When you’ve been dead this long, you’ll probably be tired of heaven.
You do what you can do in a place
but after a while you exhaust that place,
so you long for rescue.

(Louise Glück, In the Café. In: Poems 1962–2012. New York 2013, S. 569, Verse 1–5)

Durch die Verse von Louise Glück blitzen Humor und Weisheit (eigentlich zwei Seiten eines Erkenntnislevels) und mitten in einer Welt, die sich entschlossen hat, jeder Dummheit ein Megaphon in die Hand zu drücken, fühle ich mich ganz biedermeierlich bei dieser Lektüre, die in sprachlicher und psychischer Präzision und Klarheit zum Mitdenken und Nachdenken lenkt, ganz nah ist an den kleinen Dingen, die hier trösten, und frei macht zur eigenen Reflexion. Wie die Wäsche im Keller hänge ich meine Gedanken beim Spaziergang durch den weissen, an vielen Stellen zerfliessenden Schnee an die gespannten Leinen dieser Verse, benutze fremde Worte in nur halbvertrauter Sprache als Klammern.

Ihr da draussen, die Ihr trauert: Die Stillen im Lande harren aus mit Zuversicht und ohne Angst, lächeln über das Ungenügen ihrer lauteren Mitmenschen und sind in Eurer Trauer Eure mitfühlenden Begleiter*innen …

The weather grew mild, the snow melted.

(Louise Glück, Fable. In: Poems 1962–2012. New York 2013, S. 465, Vers 1)

[cite]

Christian von Zimmermann ist Dozent für Neuere Deutsche Literatur und Editionsphilologie am Institut für Germanistik und am Walter Benjamin Kolleg der Universität Bern.
Seit 2020 führt er den Blog "LITERATURFORUM.CH". Auskünfte über seine akademische Tätigkeit gibt auch die private Homepage: vonzimmermann.ch