Beim Lesen

Rückblickend

Trete ich auf den Balkon beginnen die Spatzen ihr aufgeregtes Gezwitscher. Beobachten das Vogelhaus. Später werden sie wieder in Scharen einfallen und sich die Mägen vollschlagen. Wilde Brut, die mich das Jahr begleitet hat. Haben sie sich verdient, die Spatzen, das Futter, durch ihre fröhlich mutwillige Gesellschaft in diesem Jahr. Jetzt, so will ich es lesen, solidarisieren sie sich mit der allgemeinen Festtagsgefrässigkeit.

Die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr sind ein Refugium. Zuflucht.

Der 31. Dezember ist Rückblickzeit. Rückblickend denke ich an ein unbeschwertes Silvester 2019 mit den Kindern in heiterer Ausgelassenheit, zukunftsfroh irgendwie.

Das Jahr hat spürbar und sichtlich seine Spuren an den Augen hinterlassen. Bildschirmblick.

In den Ohren auch: Zeit für viel Musik. Weather Report an vielen Tagen. Wechselnde Geräuschkulissen im Garten, im Spital, im Haus, auf wenigen Fahrten. Jetzt rauscht die Heizung, gluckert. Eine Uhr tickt und die Tastatur klappert unter den Fingren. Stoff reibt auf der blanken Tischplatte. Von draussen Spatzen – na, das war ja klar.

Den Teichfrosch nahm der Marder, kurz nachdem er sich angesiedelt hatte. In einem der Bottiche, die Seerosen aufnehmen sollten. Jetzt fällt er mir wieder ein, vielleicht wegen der alljährlich wiederkehrenden «Toten des vergangenen Jahres» in den medialen Jahresrückschauen.

Ich blättere in Gedichtbänden wie in Erinnerungen. Inger Christensen, Rose Ausländer, Klabund, Christian Lehnert. Was so zur Hand ist.

Keine Frage, warum ich an einzelnen Versen nicht vorbeilesen kann, an so vielen anderen aber vorbeilese.

Mühelos erklimmen die Kranken

den Gipfel des Thermometers

Oben empfängt sie der Mohn

Sie durchstreifen das Gelände der Gefahr

[…]

(Rose Ausländer, aus: Das Spital. In: Blinder Sommer. Gedichte. Frankfurt/M. 1987, S. 63)

Seit ich von fünftausend Gestorbenen schrieb, hat sich die Zahl der Coronatoten um die Hälfte erhöht. Man liest ja keine Gedichte, ohne sich in ihren Worten zu verhängen, also die Gegenwart in sie zu verstricken mit Nadeln aus Nachrichten.

In den Gedichten Sprachbilder für das, was wir uns vorstellen, aber vielleicht nicht oder noch nicht erlebt haben: unmittelbare Erfahrung des Leids. Nicht dass die Texte davon sprächen, also von der Pandemie des Jahres 2020, aber sie bieten unserem Mitgefühl Platz durch konkrete Details, durch Stimmungen, jetzt erst aktuelle Sinnzusammenhänge, die keine Intention einer Autorin oder eines Autors vorwegnehmen kann.

Ich rede mit mir, nur mit mir.

Atemluft weht über das Kissen.

Mein Fenster ist der Monitor, flackernde

Einstichpunkte der Erinnerungen, eine Hand,

fern, sehr fern vibriert durch meinen Körper,

eine Bettelschale, sie reicht mir Blut.

Der Tod ist eine abgestellte Maschine.

(Christian Lehnert, aus: Am Abend, am Morgen. In: Finisterre. Gedichte. Wien 2002, S. 26)

Wir sind dieses Jahr nicht fertig geworden mit der Krise, also intellektuell. In Klabunds Übertragung der Sprüche von La Rochefoucauld lese ich:

Die Philosophie triumphiert leicht über vergangenen und zukünftigen Schmerz, aber das gegenwärtige Leid triumphiert über sie.

(La Rochefoucauld, Gedanken zur Liebe. Übertragen von Klabund. Berlin 1923, S. 5)

Die Interpretation, denke ich, triumphiert leicht über die Texte, aber eine eindrückliche Gegenwart triumphiert doch über die Interpretation. Schon beim Blättern in den Gedichtbänden. Also schon als Selektionsprinzip. Gut, man kann dann bewusst den zweiten und dritten Schritt gehen, die anverwandelte Lektüre wieder fremd werden lassen und den Dissonanzen nachspüren, die sich zwischen Erlesenem und Gedrucktem auftun. Es gibt harzige Wege zu einem besseren Verständnis des Gedichts in seiner Entstehungszeit in einem konkreten Kontext.

Aber es gibt auch einen anderen Weg zum Gedicht.

Wenn man Lyrik zu schreiben versucht, kann der Prozeß oft in einer Meditation über die Sprache beginnen.

Und genau diese Konzentration auf für sich genommen eher leere Wörter und ihre Kombination kann die Erinnerungen hervorholen, die wichtig sind. Und die verursachen, daß später auch der Leser seine Erinnerung wird hervorholen können.

(Inger Christensen, Unsere Erzählung von der Welt. In: Ein chemisches Gedicht zu Ehren der Erde. Auswahl ohne Anfang und Ende. Aus dem Dänischen übersetzt von Hanns Grössel. Hg. von Peter Waterhouse. Salzburg u. Wien 1997, S. 156)

Erinnerungen wäre mir zu wenig. Auch die Gegenwart müssen wir erst hervorholen, die Gegenwart und das Mitgefühl.

Neben den Spatzen kommen vereinzelte Meisen – Kohlmeisen, Blaumeisen und eine Tannenmeise – zum Vogelhaus. Ich beobachte die Unterschiede. Die Meisen sind vorwitziger, mutiger möchte ich sagen, weiss aber nicht, wie sich Mut definieren lässt, damit es auch auf das kleine Federvolk passt. Jedenfalls sind die Meisen zuerst da, meist allein. Sie blicken aufgeregt um sich, schnappen einzelne Körner und sind wieder davon – nahezu in aller Stille, wenn die Kohlmeise nicht die Schalen unter lautem Hämmern auf dem Metallgitter des Balkons aufklopfte. Die Spatzen brauchen Gesellschaft. Sie fallen in Scharen ein, veranstalten ein lautes Spektakel und flüchten ebenso gemeinsam wieder in die blätterlosen Winterbüsche. Dort schreit es aus ihnen heraus, weil ich den Balkon betreten habe. Es hört sich an wie Empörung oder wie ein Ventil ungestillter Fressgier.

Das Jahresende in meinem Kopf ist ein Durcheinander der Eindrücke. Viele haben sich testen lassen, manche haben schwierige Zeiten durchgemacht, einige waren krank, manche schwer. Sie habe die Krankheit gut überstanden, erzählt eine Hundebekanntschaft, aber später habe sie an Konzentrationsstörungen gelitten und sich nichts mehr merken können. Aus der Ferne erzählt eine liebe Verwandte, sie sei noch nie so krank gewesen.

Die Pandemie: Das ist das Virus, das sind die Massnahmen, das sind wir, jede und jeder Einzelne im Umgang mit dieser Situation: die Krankheit erleidend: einige; die Situation aggressiv verneinend: manche; das Gegebene in Stille annehmend: die meisten; aktiv Mitgefühl und Unterstützung bietend: immerhin auch ein paar.

Man kann es sich wohl nicht als Verdienst zuschreiben, verschont worden zu sein. Allenfalls wäre jetzt am Jahresende der Zeitpunkt, sich auf die Schultern zu klopfen, wenn man die Ruhe bewahrt hat, nicht ins haltlose Tagesgeschrei eingestimmt hat, getan hat, was notwendig war. Oder wenn man jedenfalls rasch wieder die Fassung gewonnen hat.

Was soll man mehr über dieses Jahr sagen? Die Krisen sind nicht ausgestanden. Unseren Atem brauchen wir noch. Und unser Mitgefühl. Und unsere Umsicht. Unsere Vorsicht auch.

Die Sprache auch.

Und die Spatzen.

Keine Zeit für einen Summenstrich am Ende des Jahres 2020 – und zu viel Gegenwart für eine Interpretation.

Gestern kamen fünf Türkentauben in den Garten, warteten in aller Ruhe ab, lasen dann auf, was die Spatzen aus dem Haus geworfen haben.

Ich blättere in Gedichten oder fülle das Futter am Vogelhaus nach – um die Gegenwart hervorzuholen.

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Christian von Zimmermann ist Dozent für Neuere Deutsche Literatur und Editionsphilologie am Institut für Germanistik und am Walter Benjamin Kolleg der Universität Bern.
Seit 2020 führt er den Blog "LITERATURFORUM.CH". Auskünfte über seine akademische Tätigkeit gibt auch die private Homepage: vonzimmermann.ch