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Schneetage

Es hat eingeschneit. Am Morgen knatscht der Schnee unter den Stiefeln. Hundespaziergang. Ausgedehnt. Ein Homeofficeluxus, wenn man sich die Pendelzeiten sparen kann.

Überhaupt: Wieviel man auch gewinnt in dieser Zeit, in der man so viel verliert. Ich werde mit meiner Rechnung nicht schnell fertig. Ein Momo-Romantiker sähe jetzt die grauen Männer verzweifelt Rauchschwaden blasen, weil Zeit und Arbeit plötzlich gelebt werden können und keiner sein Zeitsparbuch füllen will. Aber wie man die Situation erlebt, hängt von zu vielen Faktoren ab. Es kann einen auch existenziell treffen. Ist klar.

Die Schneedecke liegt für das Unterland erstaunlich hoch. Als wäre es zum ersten Mal in den Jahren hier, stapfe ich eine frische Spur in den tiefen Schnee, wo eigentlich Feldwege sind. Die Kartographie der Wege muss man im Kopf haben. Sehen kann man sie nicht.

Der Hund ist freudig erregt – wie immer, wenn frischer Schnee gefallen ist. Springt ausgelassen durch das pulvrige Weiss, selbstzufrieden. Später werde ich die Schneeklumpfen aus dem Fell waschen müssen. Wir freuen uns aber beide schon auf die Pfützen, die wir zuhause hinterlassen würden, wenn wir uns trauten.

Alle Flächen sind weiss. Die Felder, die Wege, die Dächer, die Äste, der Himmel am Morgen auch. Dazwischen staken schwarze Pfähle und Bäume und Äste und Hausecken und Fensterstreben. Der Wald am Ende des Sichtfeldes ein schwarzes Gekritzel um kaum darin erkennbare dickere senkrechte Striche auf einem schneeweissen Bogen Papier.

Noch schneit es, hört aber dann bald auf.

Es ist so friedlich hier. Das Stapfen im Kalten sorgt auch dafür, dass die Gedanken nicht fliegen. Dafür spüren: die Füsse warm, die Waden kühl, die Nase kalt, die Finger in den Handschuhen schneefeucht. Zu hören: das Knirschen des Schnees, unterbrochen vom aufgeregten Gezwitscher einer Kolonie Feldsperlinge. (Ja, denke ich, den Unterschied sieht man, also den zwischen meinen Spatzen und den Feldsperlingen auf dem übernächsten Bauernhof.)

Erst zuhause schwirrt der Kopf wieder von den Bildern der letzten Wochen. Kann man das vergessen, wie ein gehörnter junger weisser Mann schamanisch brüllend auf der Gallerie des Parlamentssaals im Capitol steht? Alsob 10’000 Jahre Zivilisationsgeschichte am Menschen spurlos vorübergegangen sind? Der Rückfall ins Barbarische ist immer eine Option. Es geht ja auch nicht nur darum, wer diese erblödete Meute geschickt hat. Es geht darum, dass sie sich schicken lässt: als hirnlose Masse.

Noch nie war man ja auch so nah dabei. Also ich nicht. Nicht zu vergleichen mit einer Demonstration – eher mit dem Aufbruch zur Lynchjustiz. Die kollektive Vernunftverweigerung der Masse – festgehalten in ihren eigenen Handyfilmchen (unterstützt von ein paar wagemutigen ‘Kriegsberichterstatter*innen’).

Das ist fast eine kleine Medienrevolution: der sich selbst überwachende Mob, zugleich Zeitzeug*innen und Partikel im Strom der Erregung.

Eigentlich sind wir ja noch gut dran. Die paar armseligen Tröpfe, die bei uns auf dem Bundesplatz gegen die Vernunft rebellieren, glauben wir, nicht zählen zu müssen. In der Zeitung das Foto einer weisshaarige Alte mit einem Schild „Lügenpresse“: die personifizierte Torheit. Daneben protestiert Eine gegen Masken für Kinder; das kann man gelten lassen, könnte man ja auch diskutieren.

Doch: Mich erschüttern diese Bilder. Der Mob im Capitol, die Neunazis und germanischen Schamanen vor dem Reichstagsgebäude, gewalttätiger Nihilismus in den Niederlanden – und auch eine unweise alte weisse Frau mit ihrem Schild „Lügenpresse“ …

Neben dem Schreibtisch vor dem Fenster lärmts. Die Vögel am Futterhaus scheinen Hand in Hand zu arbeiten. Bevor die Spatzen sich mit lautem Geschrei in grosser Zahl über das Haus hermachen, ist die Amsel da. Breit und selbstgewiss drückt sie den Schnee vom Balkongeländer und legt so den Zugang zum Vogelhaus frei. Die ungeduldigsten Spatzen suchen sich die Körner, welche die nicht eben zimperliche Amsel dabei aus dem Haus wirft. Beruhigend eine solche Welt mit ganz anderen Sorgen.

Mit grazilen, gleichzeitig gebrechlichen und perfekten Gesten unterstreicht Amanda Gorman in perfekt akzentuierter Performance die wohl gesetzten Worte ihres Poems zur inauguration. Die junge Frau mit dem Vogue-Flair des Establishments, die selbst daran erinnert, dass sie als Nachfahrin von Sklav*innen, als Tochter einer alleinerziehenden Mutter diese Worte sprechen kann, ist keine Revolution. Ihr Text ist pathetische Erinnerung an gerade erst verteidigte Werte, keine Analyse sozialer Misstände also. Das darf man auch kritisieren. Aber: Der ganze Auftritt – dass also diese junge Frau diese pathetischen Worte und diese Erinnerung an die Werte der westlichen Welt spricht – ist selbstverständlich und gerade in dieser Selbstverständlichkeit ein Symbol für die Leistungen der Zivilisation im 21. Jahrhundert.

Und als dieses Symbol ist sie das genaue Gegenteil des röhrenden Schamanen oder der Greisin mit ihrem „Lügenpresse“-Plakat. Die Zukunft gegen ihre Verneinung.

Erinnern wir uns:

We are striving to forge a union with purpose

To compose a country committed to all cultures, colors, characters and conditions of man

Amanda Gorman, The Hill We Climb, 2021

Die Vernunft der freien Welt ist herausgefordert. Müssten nicht wir darauf die Antwort sein? Damit wir sagen können:

We’ve braved the belly of the beast

Amanda Gorman, ebd.

[cite]

Christian von Zimmermann ist Dozent für Neuere Deutsche Literatur und Editionsphilologie am Institut für Germanistik und am Walter Benjamin Kolleg der Universität Bern.
Seit 2020 führt er den Blog "LITERATURFORUM.CH". Auskünfte über seine akademische Tätigkeit gibt auch die private Homepage: vonzimmermann.ch