Allgemein

Sechs Randnotizen

(1) Angst

Der Fuchs sitzt dann einfach da auf dem Waldweg. Bewegungslos schaut er mich an oder vielleicht auch meinen Hund oder uns beide. Das ist auf die Entfernung nicht auszumachen. Von Klabund gibt es die schöne Beschreibung einer Begegnung zu Pferde mit einer Gruppe Rehwild. Pferd und Rehwild betrachten sich lang, schauen sich noch um, ohne dem Menschen Beachtung zu schenken. Vielleicht ist das also auch hier so. Also eigentlich nicht. Mein Hund interessiert sich nicht für Wildtiere. Auch nicht für eine Gruppe Rotwild, die wir einmal vor Jahren versehentlich im Wald aufscheuchten – zu ihrem, zu meinem Schrecken. Dem Hund war es gleich.

Erst in dem Moment, als ich mich bewege, wendet sich der Fuchs gemessenen Schrittes – so sieht es aus – dem niedrigen Buschwerk zu, um später oberhalb der Büsche zwischen zwei schlanken Stämmen sichtbar zu werden. Dort verharrt er, wendet den Kopf uns zu und betrachtet uns regungslos. Der Fuchs ist weder ängstlich noch unvorsichtig. Er wirkt neugierig, abwartend, bringt sich aber in eine Distanz, die ihm – so deute ich es – sicher erscheint.

Vor ein paar Tagen ebenso ein kleines Wiesel, wohl ein Mauswiesel. Im Sommerfell. Wie ein ausgestreckter Zeigefinder erhebt er sich senkrecht aus dem Gras am Hang unterhalb von Oberdorf bei Wildhaus im Toggenburg. Die Gruppe der Wandernden beobachtet er eingehend, bis ihm die Distanz zu gering ist, dann eilt das kleine braune Fellstrichlein fort und reckt sich an anderem Ort wieder mit seinem weissen Bauch senkrecht in die Höhe, um in die Umgebung zu spähen.

Die Vorsicht und Umsicht des Tieres als Angst zu bezeichnen, wäre eine überaus unpassende Psychologisierung dieses Verhaltens.

Der Fuchs, der neulich nachts unser Städtchen durch die kleine Fussgängerunterführung unter der Bahnlinie verliess und über den Kartoffelacker davoneilte, ist gewiss nicht ängstlich zu nennen. Eher suchte er in den Gärten, die sich im Homeoffice mit Hühnern gefüllt haben, nach einem leichten Fang.

Auch der Marder, der kürzlich wiederum nachts von mir überrascht wurde, als ich den Hund ‘noch kurz vor die Tür’ liess, eilte nur auf die andere Wegseite, um dort ausgiebig zu beobachten, was Herr und Hund um diese Nachtstunde noch in seinem Revier zu suchen haben.

Gut, ich nehme an, dass wenige sagen würden: Der Fuchs verliess ängstlich den Weg oder das Städtchen. Das Wiesel suchte angsterfüllt das Weite. Der Marder lebt in beständiger Angst vor Mensch und Hund. Nicht wirklich, oder? Es drückte eine unangemessene Hierarchie zwischen Mensch und Tier aus, die jeder Einbruch in einen Hühnerstall sofort widerlegte. Die unterstellte Angst des Tieres als Ausdruck des selbstsicheren Dominanzgefühls des Menschen.

Im Umgang miteinander sind wir da weniger zimperlich. Wenn wir einer sachlichen Debatte ausweichen wollen, dann schreiben wir gerne mal dem Gegenüber zu, nur aus Angst zu handeln. Beliebtes Thema in Paarkrisen. Beliebtes Argument der Gegner*innen von Coronamassnahmen: die angeblich angsterfüllte, todesverdrängende Massnahmenpolitik.

Beliebter Satiregag unter den 53 Schauspieler*innen, die sich unter dem Hashtag #allesdichtmachen in Deutschland über diejenigen belustigen, die sich mit Neugier, Vorsicht und Distanz in der Pandemie bewegen. Ich sehe nur Füchse, Wiesel und Marder.

(2) Lektüren

Kurze Erinnerung an meine Lektüren in den ersten vier Monaten dieses Jahres.

Klabund, Bracke, Moreau, Die Krankheit, Das Erwachen, Der Kreidekreis, Kirschblütenfest und Gedichte, Gedichte, Gedichte.

Brecht, Der kaukasische Kreidekreis.

Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel und Bartholomäus Krügers Hans Clawerts Werckliche Historien.

Jeremias Gotthelf, Die schwarze Spinne, Die Gründung Burgdorfs, Drei Brüder, Der letzte Thorberger, Michels Brautschau und diverse kleinere Texte.

Novellen: Annette von Droste-Hülshoffs Die Judenbuche, Friedrich Hebbels Schnock, Paul Heyses Der letzte Centauer, Marie von Ebner-Eschenbachs Er läßt die Hand küssen, Ferdinand von Saars Die Troglodytin und andere mehr.

Ally Kleins Der Wal. Gabriel Celaya, das schrieb ich schon.

Bisher nur sozusagen berufliche Wiederholungslektüren für die Lehre – Celaya ausgenommen.

Beat Sterchi ist oben protokolliert.

Viele kleinere Texte (zum Beispiel Briefe von und an Stefan Zweig, von und an Jeremias Gotthelf), Erzählungen von Lilli Haller.

Aus aktuellem Jubiläumsanlass Esther Vilars vor vierzig Jahren erschienenes Theaterstück Helmer oder ein Puppenheim. Das Jubiläum gilt aber eigentlich dem halben Jahrhundert seit der Provokation durch Der dressierte Mann – eine überaus scharfe Polemik gegen die Verdummung der Hausmütterchen und einen einseitigen Feminismus. (Ich habe das Buch wieder geschlossen, um mir nicht den Blick für die späteren Arbeiten Vilars zu verderben.) Danach habe ich alles gekauft, was es in Antiquariaten von Vilar zu finden gab und mit der Lektüre der Erzählung Die Mathematik der Nina Gluckstein begonnen. Auf dem Nachttisch das Theaterstück Speer.

Gedichte: einen druckfrischen Band von Christoph Simon mit zugespitzten Momentaufnahmen, Störmomenten in Alltagssituationen, szenische Beobachtungen: und das nach viermilliarden jahren evolution.

Die meisten Neuerscheinungen sind erst bestellt, vorbestellt, ein Roman von Eva Pantleon, zwei Bücher von Jürgen Theobaldy, ein Roman von Sabine Haupt.

Daneben viel Fachliches, viel Digitales…

… und vorgelesen: Momo, zwei Bücher von Anja Ruhe (Mount Caravan und Seeland, phantasievoll-spannende Bücher für 9–11jährige) und nun C.S. Lewis’ Die Chroniken von Narnia – welch’ schöner Sog in die Märchenwelten. Mit einigen wirklich grossartigen Szenen (die Geburt der Welt Narnia im Gesang des Löwenkönigs Aslan: die Beschreibung der erwachenden Natur).

(3) Dummheit

Nein, aber dieser vollkommene Mangel an Empathie und medialer Intelligenz bei 53 deutschen Schauspieler*innen. Vorgeführt offenbar durch einen, der ihr Vertrauen missbrauchte… Eine psychologische Erklärung? Naivität oder Arroganz, also Verlust eines Kontaktes zur Realität? Esther Vilar würde wohl Dummheit sagen: Empathie- und Phantasielosigkeit, was letztlich dasselbe ist.

Es sei eine satirische Übertreibung gewesen. Die kann aber dann nicht mithalten mit dem, was als Verschwörungstheorien, Facebookmedizin und Impfgegner*innenphantasmen überall zu hören ist. Sie ist daher als Satire nicht erkennbar unter all dem Aberwitrz, der als die eigentliche Wahrheit durch die sozialen Medien schallt.

Sie wollten das Ungehörte zur Sprache bringen? Dabei wiederholen sie, was jede und jeder überall lesen kann, hören muss und diskutieren darf. Gut, sie spitzen es zu ins Groteske. Aber eben.

Nicht weniger ‘dumm’ freilich die Forderung, die Schauspieler*innen jetzt ausser Vertrag zu setzen, die auch zu hören war.

(4) Dohlen

Als Flachländler kenne ich keine Alpendohlen. Sie sehen mit ihrem ordentlicheren Gefieder und dem gelben Schnabel aus wie bourgois gewordene Saatkrähen, und anstelle eines Krächzens geben sie ein fast schon melodisches ‘Ouib Ouib’ von sich. Sie zwitschern. Ganze Kolonien auf Hausdächern in Wildhaus im Toggenburg. Die erste Reise nach langer Zeit im Homeoffice.

(5) Randnotizen

Es ist ganz unklar, wann die Pandemie vorüber sein wird. Klar aber, dass es keine Grenze geben wird: ab 1. August (in der Schweiz!) pandemiefrei. Oder so etwas in der Art.

Es wird ausfransen an den Rändern wie früher die abgeschnittene Jeans. Vielleicht weiss man nicht einmal, wann man sich auf die Schulter klopfen darf, weil man durchgehalten hat, sich nicht an Wutreden und Hass beteiligt hat, nicht in Angst gelebt hat, nicht Nachbar*innen denunziert hat, über Unternasenträger*innen nur geschmunzelt hat, Eskalation vermieden hat. Vielleicht auch einfach weil man mit vielen anderen vernünftig und besonnen zusammengehalten hat.

Aber vielleicht lässt man es auch, denn es ist ja keine Schande, wenn man es nicht geschafft hat, also Angst und Einsamkeit nicht ausgehalten hat.

(Reicht das auch bis zu Hassposts, bis zur Verbrüderung mit Rechtspopulisten, zur entgleisten Satire, zur Verbreitung von Irrwitz. Ist das dann auch keine Schande? Ich weiss es nicht, aber wir werden viel Geduld, Wille zu Vergebung aufbringen müssen, wenn wir ‘durch’ sind. Und klar, wir werden uns auch kritisch fragen müssen, was wir ‘für das nächste Mal’ lernen können. Alle.)

Und dieses Schreiben, also dieses in der Pandemie einen Blogg schreiben. Wann und wie wird es enden? Ausfransend? Durch einen gewollten Schlussstrich?

(6) 14’000 Schritte

Wandern, bergauf, bergab, steinige Wege, wurzelige Waldbodenwege, also weich, uneben und dann eben Wurzeln, auf denen der Fuss sich über dem Harten beugt. Ansteigende Wege. Schnee. Auf 1300 Metern immer noch Schnee. Hart, darunter locker und tief. Und wieder bergab, Serpentinen oder steil. Die Steili etwa, wo ein Wiesel aus den Grasnarben lugte.

Wandern also: wenig spektakulär, wenn man es erzählt, aber reich an Fusseindrücken, Beingefühlen. Auch Kniegefühlen. Es fällt mir erst später ein. Also das Knie. Das neue Knie, das jetzt einfach so vier, fünf Stunden wandert.

Wann fällt mir das ein? Erst beim Blick auf den Schrittzähler der App?

Keine Schmerzen, kein Anschwellen des Knies, kein Klappern der Metallteile, kein Fremdheitsgefühl. Acht Monate nach der OP ist die Knieprothese Ich geworden, weniger fremd als das alte, das Schrottknie. Seit über zwei Jahren wanderte ich nicht mehr so leicht, wie ich jetzt wandere. Ich merke es nicht einmal.

Zuhause am Sonntagnachmittag. Spät erst los. 14’000 Schritte. Mein kleiner, mir selbst zunächst unbemerkter Sieg über das Knie. Eigentlich also ein Sieg der Medizin.

Mehr Ich als das alte schmerzende, knorpellos gelaufene Schrottknie?

[cite]

Christian von Zimmermann ist Dozent für Neuere Deutsche Literatur und Editionsphilologie am Institut für Germanistik und am Walter Benjamin Kolleg der Universität Bern.
Seit 2020 führt er den Blog "LITERATURFORUM.CH". Auskünfte über seine akademische Tätigkeit gibt auch die private Homepage: vonzimmermann.ch