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Vier weitere Randnotizen

(7) Mai, verregnet

Schwer beugen sich vor meinem Fenster die langfingrigen Äste des Weissdorns in weiten Bögen über dem Pflasterweg. Erst seit ein paar Tagen ist der schlanke Baum vom Weiss seiner dichten Blüten übersät. Er hängt regenschwer, die leichten Astverzweigungen ducken sich unter dem grauen Himmel. 

So sieht es aus. 

Erst seit ich den benachbarten Haselstrauch, der sich ausladend gut sechs Meter neben ihm buschig in die Höhe streckte, zurückschneiden liess, kommt er richtig zur Geltung. Es mag an diesem schattigen Nachbarn gelegen haben, dass sich die Zweige vor allem in die Länge und weniger in Fülle entwickelten. Darum vielleicht hängt jetzt das Gezweig so tief im grauen Maiwetter.

Der letzte Mai fand auch schon im Setting von Homeoffice, Garten und Hygieneregeln statt. Mehr als ein Jahr schon leben wir so. Da ist man näher an den Jahreszeiten, die sich nun auch schon wiederholen. Wiederholen? Die Wiederkehr des Gleichen im Kreislauf des Jahres ist wohl nur ein Bild für eine heilere, langsamere Zeit. Die zirkuläre Kalenderzeit gegen jene lineare Zeit, in der wir die Welt verbrauchen, technisieren, mit Giften vollblasen.

So stimmt das aber nicht. Das ist eine idealisierende Abstraktion.

Auch im vergangenen Jahr hingen die Weissdornzweige. Bei schönem Wetter schienen sie sich unter der Last der Blüten und des schon dichteren Laubs zu beugen. Dicke Rosenkäfer brummten in grosser Zahl, erkletterten die Blütenbüschel. Schon Anfang Mai, bei rein kalendarischer Betrachtung also zwei Wochen früher, habe ich die grün glänzenden Käfer in den Blüten fotographiert. 

Jetzt haben sich die weissen Blütenbüschel später geöffnet. Rosenkäfer sah ich erst einen.

Ich schaue die Fotos an. Die Esche in vollem Laub. Das sieht man auf den Fotos vom 2. Mai 2020 gut. In diesem Jahr, im Mai 2021, ist es regnerisch, kalt, grau verhangen, und die Esche ist in der Monatsmitte noch licht und erst zaghaft grün. Die Blätter haben sich noch nicht ganz entfaltet.

Die Jahre gleichen sich nicht. 

Auch meinetwegen. Den Haselstrauch und den morschen Zwetschgenbaum liess ich entfernen; manchen Busch schnitt ich selbst zurück. Drumherum erobert anderes Grün nun die Freiräume. Kleinvögel suchen andere Pfade durch das Strauchwerk, und in viele Richtungen hat sich unter den Bedimngungen von Rückschnitt und Wachstum meine Aussicht verändert. Das Wetter und menschliches Tun haben dem Mai ein anderes Gepräge gegeben. Die Türkentauben sitzen nun regelmässig an der Winterfutterstelle, schauen durchs Fenster. Auf anderen Feldern blüht jetzt der Raps. Gerade erst steht er in voller Blüte. Auf anderen Äckern sind die Kartoffelfurchen gezogen, die Kartoffeln gesetzt, und erst auf wenigen Erdwällen, die sich schnurgerade über den Ackererstrecken, zeigt sich zaghaftes Grün.

Die vorlaute Mönchsgrasmücke sah und hörte ich im vergangenen Jahr nicht.

Kein Jahr gleicht dem anderen, und ich frage mich, wie es wohl gewesen wäre, wenn der vergangene pandemieungewohnte Frühling so grau und kalt gewesen wäre wie dieser. Wäre es deprimierender gewesen oder wäre man noch leichter einfach zuhause geblieben?

Dennoch kehrt manches wieder.

Je mehr ich auf das Einzelne achte, auf diesen Vogel und jene Sicht zwischen Buschwerk in Ackerweite, auf das Blühen hier und Nichtblühen dort, desto mehr zeigen sich die Unterschiede. Vergrössere ich die Distanz, zeigt sich ein Kreislauf, der bei noch grösserer Distanz in den allgemeinen Strom der Veränderungen sich auflöst.

Der Versuch bei den Details zu bleiben. Aber nach einem intensiven Jahr im Garten und in der kleinstadtnahen Natur nimmt die Aufmerksamkeit für das Unmittelbare auch wieder ab. Wie waren die Schritte heute auf dem Hügel? Ihr Klang, das Gefühl der Sohlen auf dem matschigen Boden?

Der Regen hilft. Ich stehe im überdachten Gartenplatz und höre den Tropfen zu, die durchs Laub fallen, rinnen, spritzen. Viele meiner Lieblingslandschaften zeigen ihre Schönheit vor allem auch im Regen. Galicien im spanischen Westen, Irland am Atantik, japanische Küsten. Auch dieser Mai hier ist schön mit seiner Regensoundscape. Zugleich einzigartig und an ähnliche Regenstimmungen erinnernd.

Farben helfen auch. Kräftige Frühlingsfarben einer feuchten Natur. Das Grün ist üppig und drüben auf dem Hügel zeigt sich eine ganze grüne Farbpalette, wenn neben den dunkleren Nadelbäumen das noch frische, helle Grün der Laubbäume leuchtet. Nur in einem regnerischen Frühjahr kann sich diese Farbpracht so intensiv entfalten. Vielleicht könnte ich mit einem Pantone Farbfächer durch die Sträucher gehen und Grüntöne verzeichnen? So springt nur das Auge, dem meine überwältigte Sprache hinterherhinkt, von Farbwert zu Farbwert: Da, dieses Grün, dort jenes. Pantone 382 C vielleicht? Oder Pantone 390 C? Daneben die dunkleren Nadelbäume. Davor saftig grüne Wiesen in eigenen Schattierungen.

Dieser Mai ist nicht einfach später in dem Sinn, dass etwas verzögert dasselbe Erlebnis bereit stünde, um eben erlebt zu werden. Er ist eine andere Welt: eine nasse, farbenstarke, tropfende, windrauschende Welt, die keinen Erfahrungswert teilt mit jener des Vorjahresmai.

Im Garten liegt eine tote Amsel. Jedes Jahr begrabe ich eine Amsel unter dem Rasen. Sie werden Opfer der Katzen, des Marders, vielleicht auch der Krähe, die es aber eher auf das Nest abgesehen hat. Vielleicht war es die besonders aggressive Amselhenne vom Futterhaus. Welche Dynamik setzte das in Gang, wenn dieser bestimmte Vogel tot auf dem Kies im Vorgarten liegt? Verändert dies meinen Garten?

Um das vergangene Jahr einzuholen, müssten jetzt sofort die Azaleen im Vorgarten in voller Blütte stehen. Der Klatschmohn müsste seine roten Akzente an die Feld- und Wegränder setzen, und die Rosen blühten über Nacht auch schon.

Ich sitze am Fenster und lausche dem Regen und irgendwie dem Gang der Zeit – in den Details, in der Wiederkehr, im allgemeinen Strom ständiger Veränderungen.

(8) Impftermin

Eigentlich hätte der Abschnitt Impfneid heissen sollen. Die vergebliche Herumklickerei auf dem Nateldisplay, immer wieder, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Keine freien Impftermine, gleichzeitig Triumpfnachrichten, man habe jetzt einen ergattert. Die Verwandtschaft in Deutschland immer ein paar Schritte voraus. Termine in Gantrisch… Termine in Thun, sind aber dann schon weg… Termine in Langenthal, zwei ausgesucht, auf ‘buchen’ geklickt, aber es war wieder jemand schneller. 

Nicht dass es auf ein paar Tage jetzt noch ankäme. Es ist eher erstaunlich, welchen Sog so etwas entwickelt. Das Happy-Gesicht einer Lehrerin auf dem Fast Track zum Sonderimpftermin. Und Gerüchte: Angeblich würden 16jährige mit guten Kontakten schon längst geimpft. Schlimmer noch: Angeblich nehmen viele Lehrpersonen, die gebuchten Termine dann nicht wahr. Was man so redet.

Wie das halt so geht. Und was es dann so mit einem macht: Impfneid natürlich.

Der ist sofort weg, wenn man auf der anderen Seite angekommen ist. 

Nachts zwischen eins und zwei klappt es endlich. Impftermin in Burgdorf am Montag, 17. Mai. Durchklicken, buchen. Dann der Blick in den Terminkalender, ob es auch passt. Passt ‘natürlich’ nicht. Bei einem Termin kann ich mich vertreten lassen; der andere lässt sich dann später problemlos per App verschieben.

Aber klar: schnell wird eine Message an einen lieben Freund geschrieben, sobald man die erste Spritze erhalten hat. Sofort leuchtet die Antwort auf – mit einem derben Fluch, fast mit Verzweiflung und … Impfneid eben.

Lustig ist, dass sich aber schon beim Einkaufen ein kleines Gefühl von Befreiung und Fortschritt einschleicht. Auf die Durchsage, die Kundschaft werde gebeten die Hygieneregeln einzuhalten, zeigt sich ein tiefes freudiges Gefühl: Irgendwie einen Schritt näher am Ziel. Trotz Maske und Handdesinfektion und Abstand im Supermarkt hat sich etwas verändert: Es ist nicht mehr dasselbe Erlebnis.

Nichts ist bisher erreicht, keine Grenze ist überschritten, aber in den Randgebieten herrscht freudige Erwartung.

Dann das Warten auf die Nebenwirkungen? Nein, nicht wirklich …

(9) Lehre

Derweil geht das Semester dem Ende zu, und ich verabschiede mich schon eher mit Bedauern von den Möglichkeiten der Videovorlesung. Diesmal ist die Evaluation gut – auch weil sich Institutionen eben doch bewegen und verbessern können, denn der Evaluationsbogen ist nach den Erfahrungen des Vorjahres überprüft und angepasst worden. Noch immer werden Studierende einer Vorlesung gefragt, wie zufrieden sie mit ihrer aktiven Teilnahme seien. Da sieht das Ergebnis schon eher nach einer Zufallsverteilung aus. Es wird aber auch nach den Erfahrunegn mit der digitalen Lehre gefragt, und diese sind trotz öffentlicher Diskussionen  darüber wann ‘endlich’ die Hochschulen zur Präsenzlehre zurückkehren, überraschend positiv. Die Videosequenzen der Vorlesung sind bereits sämtlich aufgenommen und für mich schon abgeschlossen. Ich geniesse ein wenig selbstzufrieden, dass das Konzept, die literarischen Entwicklungen zwischen Naturalismus und Jazzeit anhand biographischer Stationen und der Werke von Klabund zu entwickeln, inhaltlich und auch in der Darbietung aufgegangen ist. 

Noch spannender ist aber die digitale Lehre im kleineren Seminar zu Jeremias Gotthelfs historischer Novellistik gewesen. Ich hoffe, dass wir in Zukunft auch etwas von den positiven Erfahrungen mit der digitalen Lehre profitieren dürfen. Warum? Die wichtigste Erkenntnis ist: Mit engagierter digitaler Lehre kann man andere Studierende erreichen, andere Lehrerfolge erzielen. Wenn wir aber mit je anderen Lehrformen je andere Studierende ansprechen, dann sollten wir diversere Angebote machen. Jedenfalls dann, wenn wir Universität als Denk- und Wissensschule begreifen und nicht als pädagogische Instanz zur Ausbildung eines bestimmten akademischen Habitus. Universitas semper reformanda.

Das klingt schon wie ein Glaubenssatz, ist aber eher eine neugierige Frage.

Eigentlich hat man – also habe ich – allen Grund, für die vergangenen Monate und Semester dankbar zu sein: für die Möglichkeit in seinem Berufsleben einmal alles anders machen zu können, neue Ideen umsetzen zu können – mit dem Rückenwind der Institution Universität. 

Ich gestehe: Das werde ich sehr vermissen.

Wehmut ist auch so eine Randerscheinung am Ende dieser Zeit. Also Freude und Wehmut.

(10) Sockenparty

Bequem eingerichtet mit duftendem Tee, in Kissen gelehnt und sockfüssig verfolge ich die Solothurner Literaturtage 2021 in einem fast schon professionellen digitalen Auftritt. Über Videokonferenz bin ich mit zwei literaturengagierten Kolleg*innen verbunden, die ihrerseits den Lesungen und Gesprächen folgen. Auch wenn wir das Kommentieren auf die Pausen verlegen, ist es doch fast schon gesellig, den anderen beim Hören zuzusehen.

Schön ist es aber auch, gänzlich zufrieden und entspannt mit den Literaturtagen auf dem Bett zu sitzen.

Der Tag beginnt für uns mit der Lesung von Beat Sterchi. Der geschätzte Text. Die Stimme des Autors. Gärtnern und Schreiben, so sagt er, seien «sehr vergleichbare Tätigkeiten». Er kokettiert etwas mit seinem Titel Capricho, doch der Moderator scheint das Buch auch tatsächlich (nur) für eine Laune zu halten. An bestimmte Bücher muss man sich eben erst heranleben.

Ich höre später Wolfram Malte Fues, Annina Haab, eine Diskussionsrunde und am Abend noch Benedict Wells, der sich gut verkauft, aus seinem Jugendbuchbestseller angenehm liest und eine sprachlich gefällige, sehr klischeehafte amerikanische 80er-Jahre-Welt in Szene zu setzen weiss.

Zwischendurch Zoom-Gespräche über das Gehörte und einige Erledingungen. 

Am Vormittag schien sogar die Sonne durchs offene Fenster.

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Christian von Zimmermann ist Dozent für Neuere Deutsche Literatur und Editionsphilologie am Institut für Germanistik und am Walter Benjamin Kolleg der Universität Bern.
Seit 2020 führt er den Blog "LITERATURFORUM.CH". Auskünfte über seine akademische Tätigkeit gibt auch die private Homepage: vonzimmermann.ch