Allgemein, Beim Lesen

Emendatio post festum

Irgendwann geht es dann ganz schnell. So schnell jedenfalls, dass einem im Rückblick das Gewesene irreal erscheinen könnte. Man muss sich schon sehr konzentrieren, um in den ersten Junitagen bei frühsommerlich warmem Wetter unter dem wolkenlos blauen Himmel und auf den gemähten Wiesen die triefende Maistimmung im Bewusstsein zu halten. Sicher kann man sich einen verregneten Maitag irgendwie vorstellen und triefende Stimmungen allemal, aber eben nur als eine blasse Abstraktion der vergangenen Gegenwart.

Manchmal begegnen wir Menschen, mit denen uns etwas innig verbunden hat und die Unschärfe der Erinnerung wird uns fast schmerzhaft bewusst. Undenkbar, dass diese Fremdheit einmal Nähe war. Manch Erwachsener blickt so auf die Eltern, Ruinen der so vertrauten Kindheit. Das getrennte Paar schaut sich fremd in die Augen – wenn überhaupt.

Dann beginnt die Erinnerung an Einzelnes, die Auswahl, die Herleitung, die Kausalkette, die Narration – die halbwahre Verkettung des Zufälligen, die man Lüge nennen könnte. Oder Fiktion eben.

Ist ja nicht schlimm, so ein erdachter Maitag im Juni.

Schon sind die Feldwege wieder staubig und die Soundscape wird vom anhaltenden Zirpen der Grillen bestimmt – nicht aber von den feuchten Geräuschen der Regentropfen, des Rieselns und des Schuhwerks auf matschigen, steindurchsetzten Böden.

Der Spatzenchor im Garten hat jetzt ein paar Nachwuchsstimmchen erhalten, die an dieser und jener Ecke leise aus den nahen Nestern fiepen. In der Abendsonne mache ich noch einen ausgelassen heiteren Spaziergang mit meiner Tochter. Wir versuchen, unsere manchmal etwas zickige Hündin mit einer nicht eben schüchternen Katze anzufreunden. Fast gelingt es uns.

Später, im Übergang zur Nacht, schwirren dicke Falter um die Laternen, Fledermäuse drehen zwischen Weide und Haus ihre Jagdrunden.

Am letzten Maiwochenende ein Ausflug in die nahe Bergwelt. Weiter Blick im Süden hinüber zu schneebedeckten Alpengipfeln. Im Westen sind Bantiger und Gurten zu sehen, nördlich erstrecken sich die Jurahänge. Alles ganz klar. Pandemievergessene Stimmung.

Auch die Ausflugsterrassen sind wieder geöffnet. Lange hatten die Wirt*innen zu klagen, nun schaffen sie wieder mit mürrischen Gesichtern und hohen Preisen gerade noch vertraute Vorpandemiestimmung. Ich frage mich, ob ich das wirklich vermisst habe, fühle mich aber nach der langen Zeit und dem lautstarken Lamento des Gewerbes verpflichtet, zumindest erstmal so zu tun als ob.

Die ‘Zahlen’ sinken rasch, langsamer zwar als bei manchen Nachbarn, aber rasch. Die Massnahmen fallen nach und nach. In der letzten Semesterwoche werden bundesrätlich sogar die Hörsäle wieder geöffnet. Kein Scherz. Mich beschleicht der Verdacht, dass der Bundesrat den Hochschulen die digitale Lehre nicht zutraut und vielleicht darum lieber zur Unzeit als nie ein Zeichen setzen will.

Dann verbockt derselbe Bundesrat kollegial die Europapolitik.

Noch werden überall Masken getragen.

Der Run auf die Impfungen hält an. Bei einigen Glückloseren ist der Impfneid inzwischen einer überraschend tiefen Frustration gewichen.

Bei den Querdenkenden will kaum jemand mehr dabei gewesen sein, ausser den zwei urchig wirken wollenden Gestalten, die vor einer kleinstädtischen Supermarktfiliale wacker gegen das Covid-Gesetz streiten.

Eher beginnt das Abrücken. Man sei nur zufällig mit denen auf die Strasse, ihnen aber nie auf den Leim gegangen. Rima, Brüggemann, Tukur usf. Sie alle haben es nicht so gemeint, waren nie gänzlich auf der anderen Seite, seien eigentlich ganz liebenswerte Menschen – und auf jeden Fall völlig unpolitisch. Vor allem waren sie mit ihren Äusserungen und Aktionen, unerkannten Satiren und falsch interpretierten Polemiken, die nur zufällig den Beifall auch von Extremisten des Irrationalismus erhalten hätten, im Recht. Die alte menschliche Übung: Es war nie jemand irgendwo dabei, schon gar nicht aus Zufall oder aus einer falschen Einschätzung der Lage und jedenfalls nicht mit fragwürdigen Motiven. Ach …

Es lohnt nicht, dem lange nachzuforschen. Es läuft die grosse iustificatio post festum. Aber eigentlich wird ja nicht eine Rechtfertigung vorgetragen, sondern eine nachträgliche Sinnstiftung vorgenommen: Geschichte, wie sie sich als kohärente Narration erzählen lässt – mit Motiven, Handlungskonsequenz, anerkannten Zwecken. Mit dem Ziel die eigene Position in ein möglichst unanstössiges Licht zu rücken. Allen Verirrungen wird schnell ein aufgeklärtes vernünftiges Mäntelchen umgehängt. Logificatio post festum, nannte das Theodor Lessing vor etwas über einhundert Jahren: die Erzählung der zufälligen Ereignisse als seien sie sinnvolle Geschichte. Im Blick auf die Einzelnen könnte vielleicht von einer emendatio post festum gesprochen werden, einer Bereinigung der eigenen Lebensgeschichte, um die Elemente der Dummheit, der Verwirrung … und der schuldhaften Verstrickung durch ‘ehrenwerte Motive’ zu ersetzen. Die Handlungen sind nicht mehr zu retten, nur die Motive, die Haltungen, die angeblichen Zwecke…

„Herr Bauer, ich bin kein Antisemit gewesen,“ sagt der alte Architekt Albert Speer in einem überaus gelungenen Dialogstück von Esther Vilar. Ja, von jener Vilar, die einmal die Äbtissinnen des Feminismus mit dem Gedanken aufschrecken konnte, es müssten sich beide Geschlechter emanzipieren, vielleicht sogar vor allem das männliche. Noch heute redet man mit und über Vilar vor allem über diese These (so Roger Schawinski am 28. März im Radiointerview, Urs Gredig am 15. April im Fernsehtalk).

Esther Vilars Stück Speer (1998) hat mit diesem Thema gar nichts zu tun.

Ich las das Theaterstück vor wenigen Tagen zum ersten Mal und in einem Zug. Ein faszinierender Dialog, der den Typus des skrupellosen Machers enthüllt, für welchen Speer hier steht. Geschickt wird der Architekt und spätere Rüstungsminister des Krieg führenden Deutschland im Dialog vom angeblichen DDR-Architekten Bauer ausgehorcht, dekonstruiert und (1980 vor der Geräuschkulisse schiessender Grenzpolizei) dazu verführt, ein Angebot der DDR-Führungsriege anzunehmen: Er solle den maroden Staat sanieren. Speer geht auf den Leim und fantasiert sogleich darüber, wie die Mauer durch effektivere Massnahmen zur Fluchtverhinderung ersetzt werden könnte. (Ja, in dem Stück von 1998 wird von Speer der grausame Plan erdacht, über eine scheinbar notwendige Impfung die gesamte Bevölkerung zu chippen und so mit elektronischen Fesseln zu belegen.) Klaus Maria Brandauer muss Bauer bei der Uraufführung herausragend interpretiert haben – die Rolle ist ihm sozusagen auf den Leib geschrieben.

„Ein beliebter Satz“, antwortet Bauer dem alten Speer, der an der Deutungshoheit über seine Lebensgeschichte arbeitet. Logificatio emendatioque post festum. Mit den brutalen Kräften des Irrationalismus will man eben hinterher nichts mehr zu tun gehabt haben. Es ist ja – wie der verregnete Mai im Juniwetter – auch gar nicht mehr wahr. 1980. Wer denkt als Archtitekt mit Hafterfahrung da schon noch daran, auch ein Architekt des Antisemitismus gewesen zu sein.

Ich denke an Gottfried Benn, der im Doppelleben schreibt, er habe das Parteiprogramm der NSdAP nie gelesen und dabei verschweigt, dass es auch seine eigenen Züchtungsgedanken waren, die das Dritte Reich in Politik umsetzte. Gottfried Benn erscheint mir als exemplarischer Querdenker nach heutiger Deutung des Typus. Ein eigentlich intelligenter, etwas vergrübelter Mensch beginnt 1928/29 mit zunehmender Ideentrunkenheit völkische Weltanschauungsliteratur zu lesen (Herman Wirth etwa) und findet darin – gegen jede Vernunft – die Sinnerfüllung, die er sucht. Jede Gegenmeinung erscheint ihm plötzlich akademisch langweilig und die aberwitzigsten Theorien vom Kulturerbe einer atlantischen Rasse werden bis zur Gewissheit weitergeführt: Das neue Reich mit dem altneuen Menschen wird kommen, wenn dieser Mensch gezüchtet wird, wenn das Verdorbene ausgemerzt wird. Seherisch erfüllt hält er Reden, die einem Übelkeitsschauer durch den Magen jagen. Jeder guten Zurede gegenüber ist er verschlossen. Später hat Benn seine Weltanschauung rhetorisch etwas akkomodiert.

In der Süddeutschen Zeitung las ich, es gebe erstaunlich wenig literarische Aufarbeitungen eigener Mittäterschaft. Es war von der Stasi und der ostdeutschen Literatur die Rede.

Esther Vilars Stück zeigt eben nicht Speer, sondern den Typus Speer, nicht nur den Macher, sondern auch den, der sich immer rausredet, nie auf der falschen Seite stand, die Deutungshoheit über sein Leben behalten will – und nur in der geschickt inszenierten Falle Bauers scheitert.

Nahezu vier Jahrzehnte nach Kriegsende lehrte unser ‘Erdkundelehrer’ am Kreisgymnsium der norddeutschen Hafenstadt immernoch Rassenkunde – in gezielt gesetzten Nebenbemerkungen über die Überlegenheit des germanischen Typs. Jeder wusste das, niemand unternahm ernsthaft etwas dagegen. Er war Landtagsabgeordneter der NPD gewesen und hatte sich oberflächlich akkomodiert. Seinen Nachbarn war er ein freundlicher Nachbar.

Jetzt, da die akute Zeit der Pandemie sich ihrem Ende zuzuneigen scheint, bin ich beunruhigt. Beunruhigt darüber, dass ‘alles’ einfach wieder so werden könnte wie vorher und dass das einzige, dass nicht so sein wird wie vorher, die Querdenkenden sind, die sich der Vernunft entfremdet haben, sich nur rhetorisch akkomodieren, nicht selbstkritisch Distanz nehmen, die Launen ihrer Überforderung als mitmenschliches Tun rechtfertigen und uns in Zukunft begleiten werden: als antiaufklärerische und antidemokratische Schläfer*innen, die wieder erwachen werden, wenn erneut eine Situation eintritt, die solidarisches Handeln erfordert.

Nein, Brüggemann, Tukur und Rima sind nicht gemeint mit den Schläfern. Sie sind nur das Beispiel dafür, dass sich wichtig wähnende Menschen keine Fehler machen, egal auf welcher Seite sie zufällig Beifall fanden – und dies in möglichst jeder Zeitung auch dokumentieren müssen.

Und eben: Es ist schon fast irreal, also sich die Szenen von gestern heute vorzustellen. Wie die dröhnenden Treichler.

Joe Biden ist Präsident. Weisst Du noch? Der mit dem Büffelkostüm im Capitol?

Ist irgendwie schon ziemlich lange her.

War auch eigentlich eher komisch.

Oder?

Der Juni ist bisher warm, sonnig, trocken. Das fiepende Zwitschern der Jungspatzen bereichert das Lärmen der Altvögel im Garten. Die Rosenknospen sind prall, als müssten sie platzen. Hie und da schimmert es rot, orange, rosa, weiss durch die kräftigen, die aufbrechenden Blüten noch bergenden Knospenblätter. Ich warte auf die ersten Rosenblüten in meinem Garten.

[cite]

Christian von Zimmermann ist Dozent für Neuere Deutsche Literatur und Editionsphilologie am Institut für Germanistik und am Walter Benjamin Kolleg der Universität Bern.
Seit 2020 führt er den Blog "LITERATURFORUM.CH". Auskünfte über seine akademische Tätigkeit gibt auch die private Homepage: vonzimmermann.ch