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Einen Abschluss finden

Ein zweiter Stich mit der Nadel, die so glücklich den Weg ins Gewebe findet, dass ich irritiert den Kopf zu meiner linken Schulter wende, um zu sehen, ob die Maskenbewehrte mit den blauen Schutzhandschuhen nun tatsächlich schon eingestochen hat. Ein zweiter Stich, mit dem dies nun irgendwie für mich zu einem Ende kommen soll: dies, also die Pandemiezeit.

Ja, einen Abschluss finden. Also warum nicht mit dem zweiten Stich, unspürbar zwar…

Auch am nächsten Tag muss ich genau hineinfühlen, um etwaige Nebenwirkungen zu erahnen. Ein wenig Müdigkeit, die ein kurzer Nachmittagsschlaf behebt.

Die Nacht dann von Albträumen belebt.

Emotional ist es nach der zweiten Impfung auch anders. Die erste Spritze löste etwas aus, also ein kurzfristiges Glücksgefühl.

Jetzt nur ein Termin in einem gefüllten Alltag.

Weder der Stich, noch das Gefühl eignen sich für eine irgendwie abrundende Schlusswendung. Man muss ja auch etwas wollen, um aus dem Erleben ins Abschliessen zu kommen. Man muss etwas ordnen wollen oder jedenfalls sich nicht unterordnen wollen.

Ich nehme mich zurück und schaue. 

Es sommert allenthalben. In den sorgsam gestalteten Randzonen zwischen Feld und Siedlung, also in den Blumenwiesen und Bienenweiden balancieren vier Stieglitze an schwankenden Halmen, durchstöbern die hoch stehende Wiese am Morgen. Später flattern fünf auf. Einer war wohl tief verborgen. Sie ziehen weit über den Acker an einen neuen Ort für neue Sichtung, neue Jagd auf hier noch zahlreiches Insektenvolk. Gespannte Jagdgemeinschaft.

Das weiss man eigentlich nicht; man sieht ja nur die roten, gelben, weissen Farbtupfer im Gefieder, das Flattern auch, auch das Umherspähen.

Eine schwarze Hummel brummt in die pinke offene Blüte einer Bodendeckerrose am Hang des Stiftungsgrundstücks. Jedenfalls sage ich zu meiner Tochter, die sich gerade gerne für vertraute Abendspaziergänge überreden lässt: „Schau, eine schwarze Hummel.“ 

Später reut mich das voreilig gesprochene Wort. Eigentlich handelt es sich um eine Blaue Holzbiene, eine recht grosse heimische Wildbienenart, deren Flügel tatsächlich eine intensive Blautönung haben.

‘Blaue Hummel’ wäre schon besser, also immerhin ein Versuch.

Die Bezeichnung Hummel erinnert an so eine Art generisches Maskulinum für ungenau beobachtete dicke Brummflügler. Fehlender Wille zur Sorgfalt, weil man es ja gar nicht so genau wissen möchte. In dem Moment jedenfalls.

‘Schau’ mal, da brummt was. Muss ja wohl eine Hummel sein.’

Es ist aber eine Wildbiene.

Aber da ist meine Tochter wieder bei ihrer Mutter. Ich habe es vergessen, ihr zu sagen, dass ich mich geirrt habe, vorschnell und unpräzise gewesen bin.

Das geht jetzt so weiter. Also nicht das Wandern mit Bestimmungsbuch  oder überhaupt irgendein klassifizierendes Sehen. Nur einfach eine gewisse Sorgfalt im Umgang mit der Sprache, mit der brummeligen Mitwelt, mit sich.

Das geht jetzt so weiter und soll ja auch keinen Abschluss finden.

Obwohl gerade dies der Plan hätte sein können: Die Pandemie bis zum zweiten Stich, irgendwie etwas Abgerundetes, wenn nicht gar Anfang und Ende, Erzählen nach ehernem Gesetz.

Um mich herum ist lauter Anfang.

Oder eher das fortwährende Fliessen der Ereignisströme aus nicht präzise zu lokalisierenden Quellen und mit ungewissem Lauf zum Meer.

Es sommert.

Urlaubsplanungen.

Plötzlich füllt sich am Wochenende das Haus mit Lachen, mit Musik. Kinder, Söhne mit Freundinnen, auf jedem Stockwerk Leben. Gemeinsames Essen und Lachen.

Das Haus wird sich verändern. Einer der Söhne zieht vorerst mal ganz beim Vater ein.

Vater sein. 

Die Fenster stehen weit offen, ein leichter Zug geht kühlend durch die schnell aufgeheizten Räume. Ein vorwitziger Spatz findet den Eingang der offenen Balkontür und landet verdattert auf dem Teppich: direkt vor der Schnauze des Hundes, der erschrocken aufspringt. Für kurze Zeit ist der ganze Raum ein einziges hektisches Geflatter, und etwas hilflos spüre ich das Ziehen in der linken Brust, wenn der Spatz in seiner Aufregung gegen das Fenster zu fliegen droht, und ich gleichzeitig hinzuspringen und heftige Bewegungen vermeiden möchte. Sogar der Hund nimmt dann eine Cool-down-ich-tu-Dir-nichts-Haltung ein, bis der Spatz endlich allein den Weg zurück findet ins Draussen.

Alle Fenster sind jetzt Löcher. Das Haus ist ein Sieb für den Sommer.

The Namibian berichtet am selben Tag auf der Titelseite von den Todesopfern der dritten Welle. Einige werden mit Foto individualisiert. Über 1000 Opfer habe das Land zu verzeichnen. Über Massnahmen wird gesprochen, und irreführende Social-Media-Meldungen werden behördlich korrigiert. Impfwerbungen. Bilder von Maskentragenden in fast allen Zeitungsmeldungen. Hier ist noch nichts zuende. Die dritte Welle rollt erst an.

Einen Abschluss finden?

Am Abend ist der Rasen unter den nackten Fusssohlen feucht und kühl.

In den konservativen Medien wie die NZZ erscheinen seit einiger Zeit vermehrt kritische Artikel über den Gebrauch von ‘Gendersternchen’. Ich stelle mir vor, dass sie in der Redaktion diese Artikel als Futter für die Bestien bezeichnen. Die Kommentarspalten füllen sich in rasantem Tempo. Ein wütend geifernder Mob entlädt dort seinen Hass. Lustig ist es immerhin, wenn jemand mit Emojis gegen das Sternchen als Zeichen für den Verfall der Sprache poltert.

Dort argumentiert schon lange niemand mehr.

Was wäre, wenn sie in diesem Geist begännen, zu handeln? Wie lange dauerte es dann, bis dieser  zivilisatorisch verwahrloste Kommentarspaltenmob mit Schlagstöcken gegen die Hirnschalen schwänge, in denen Gedanken wohnen, die ihren Stammtischgemeinschaften nicht genehm sind?

Nur eine ängstliche Vorstellung? Passiert das nicht längst? In wievielen Ländern?

Freundlich sind dort die Menschen. Sie haben das schöne Bedürfnis, einander zu fragen, ob sie einander unterstützen können. Sie gehen nicht gleichgültig aneinander vorbei, aber ebenso wenig belästigen sie einander. Liebevoll sind sie, aber sie sind nicht neugierig. Sie nähern sich einander, aber sie quälen einander nicht.

(Robert Walser, Phantasieren, 1915)

Satz für Satz reiht Robert Walser seine schlichte Utopie einer friedfertigen Welt 1915 aneinander. Neunzehnhundertfünfzehn Punkt. Ein kurzer, in seiner Naivität berührender Text. Müsste man nicht annehmen, dass sich niemand dieser Sehnsucht entziehen könnte. Jede und jeder müsste doch mit Walser sagen: «Dort, dort ist es schön, dort möchte ich leben.»

Aber es ist nicht so.

Die Reaktion der Vernunft: Versuche, auch diese Anderen zu verstehen, sie zu rationalisieren, ihre Leben in uns nahe Erzählungen zu verwandeln. In Ammenmärchen der Vernunft, die nur eben den Gesetzen unserer Erzählungen folgen. Sie haben längst den Trennungsstrich gezogen, ziehen ihn jede Minute; sie haben uns die Hand entzogen. Sie lachen über unsere Ansichten und über unsere Utopien von einer friedlichen Welt. Und über unsere Verständigungsversuche. 

Unter den Bäumen in meinem Garten, im Homeoffice in der Zeit der Pandemie, sprach ich momenthaft mein ‘et in arcadia ego’. 

Sommerzeit. Zeit für Lektüren. Daniel Wissers Roman Wir bleiben noch, Silvia Tschuis Roman Der Wod. So unterschiedlich diese Bücher sind, so sind sie beide der Aufgabe gewidmet, vier Generationen Familiengeschichte zu erzählen, ohne in eine oppulente Familiensaga abzudriften. Es gelingt beiden auf je eigene Weise. Es verbindet sie aber auch der schonungslose Blick auf die irrationale Bosheit naher Menschen. Daniel Wisser führt uns zum Aussterben aufs Land. Silvia Tschui zeigt, wie des einen Engel der Teufel eines Anderen ist.

Die grösste literarische Entdeckung ist für mich in diesem Jahr Adelheid Duvanels gesammelte Kurzprosa, die unter dem Titel Fern von hier erschienen ist. Bei der Lektüre der ersten Texte fällt mir spontan der Ausdruck  Midcentury-Expressionismus ein. Einige Passagen erinnern mich an die Prosa von Klabund: die bedeutungsschwere Zuspitzung eines kleinen Erlebnismoments kindlicher Hauptfiguren, deren Äusserungen und Verhalten sie zu teils grotesken Symbolgestalten werden lässt, während sie kaum individualisierende Züge haben. Klabunds Bracke, der vor seinem Vater steht. Duvanels Kinder haben – expressionistisch betrachtet – eine tiefe Verwandtschaft mit dem Kind Bracke: an ihnen bricht sich die trostlose Abgründigkeit der Erwachsenen. Besonders Duvanels frühe Texte liessen sich vor dem Hintergrund von Kasimir Edschmids Expressionismustheorien lesen. Eine Prostituierte, so meint Edschmid, müsse in der Literatur ohne wippendes Handtäschchen auskommen, aber zur Symbolgestalt für die Liebesfähigkeit aller Menschen werden. Ein Kind, könnte man sagen, muss ohne alle oberflächlich individualisierende Accessoires auskommen und das Martyrium der Weltbegegnung symbolisieren. Ja, diese Texte wirken, als seien sie aus der Zeit gefallen. Manchmal wirken sie auch aus dem Land gefallen: Kann im Mutterland der Mutterideologie so über versagende weibliche Elternschaft geschrieben werden? Und anders als bei Klabund: Es fehlt ihnen dieser letzte rettende Rest einer Hoffnung auf Menschlichkeit und Besserung.

Die Erzählungen umfassen vielleicht zwei, vier, fünf Seiten. In jedem Text ein Punkt der sich liest, als ratsche jemand quietschend mit der gebrochenen Kreide oder gleich mit seinem eigenen Fingernagel über eine Wandtafel.

Über den Gärten am Rand der Stadt kündet das spitze kijaaakijaaa von einem Milan. Sicher schiessen bald einige Krähen von ihren Wachtplätzen auf, um den Eindringling zu vertreiben.

Im Garten lockt eine Amsel irgendwen. Sie ist umringt von Spatzen. Gemeinsam oder jeder für sich allein sind sie vertieft in angestrengte Beobachtung. Schliesslich entdecke ich die Katze, die offenbar in der Nähe des Amselnestes vorbeistreifte. Amsel und Spatzen in wachsamer Gemeinschaft verfolgen das mord- oder nur abenteuerlüsterne Tier zum Bahndamm. 

Am Kompost liegt eine zerbissene Blindschleiche auf den Steinplatten des kleinen Weges, den ich zu den Beerensträuchern angelegt habe.

Und ich? Ich arbeite, lese, warte auf das Reifen der Beeren im Garten und übe mich, immer wieder scheiternd, im sorgfältigen Umgang mit meiner Mitwelt, mit der Sprache und mit mir.

Durch die Nacht knallt dann ein Schuss, der nichts bedeutet und nur hier steht, weil er sich wirklich ereignet hat, als ich aufgestanden bin. Nach dem letzten Satz aufgestanden bin, um den Hund vor die Tür zu lassen, der dann rasch wieder ins Haus strebte.

Keinen Abschluss finden. Im zufälligen, unkontrollierbaren Fliessen der Ereignisse.

Ein Vogelbeerbaum bahnt sich neben den Steinplatten vor dem Haus seinen Weg. Er steht schon über kniehoch.

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Christian von Zimmermann ist Dozent für Neuere Deutsche Literatur und Editionsphilologie am Institut für Germanistik und am Walter Benjamin Kolleg der Universität Bern.
Seit 2020 führt er den Blog "LITERATURFORUM.CH". Auskünfte über seine akademische Tätigkeit gibt auch die private Homepage: vonzimmermann.ch