Beim Lesen

Als die Nachnamen aller Poet*innen mit K begannen

Die besondere Häufung der Lyriker*innen mit dem Namen K fällt mir eher zufällig an meinem Bücherregal auf. Ausgelöst wird die Beobachtung vom Social Media-Post einer grossen deutschsprachigen Tageszeitung mit der kurzen Besprechung des letzten Lyrikbandes von Günter Kunert: «Zu Gast im Labyrinth. Neue Gedichte» (2019).

Kunert? Ob das der Kunert sei? Fragt die Buchhändlerin ungläubig, und ich bestätige. Ja, der Kunert. Neue Gedichte eines 90jährigen Poeten. Altersgedichte irgendwie. Nach zwei Wochen ist der bestellte Band endlich eingetroffen. Im Schweizer Grossbuchhandel waren Kunerts letzte Gedichte nicht vorrätig: Schicksal von Lyrikbänden selbst des Verlagshauses Hanser.

Gelesen wird dann in der schattigen Laube im Garten. Nachmittags. Mit Lesesonnenbrille. Das sieht von aussen einigermassen abweisend aus, so dass einen fast niemand stört. Neben der Laube hakt eine Amsel im Flieder, damit beschäftigt, sich zu putzen. Verärgert waren zwei Spatzen davongestoben, als die Amsel zuvor mitten im schlichten Vogelbrunnen gelandet war, um sich nach anfänglich noch ängstlicher Umsicht ausgiebig zu benässen und zu plustern. Mit einer gewissen behäbigen Rücksichtslosigkeit. Jetzt schaut sie sich im Flieder sichernd um, ist dann wieder mit ihrem Gefieder beschäftigt. Es ist so friedlich an diesem Julinachmittag unter dem roten Ahorn mit Blick auf das goldbraune, vom Regen zerdrückte und längst wieder getrocknete Dinkelfeld: Eine kurze Erzählung von hundert Seiten wäre rasch gelesen. Ein Gedichtband nicht. Gedichte brauchen Pausen. Liest man zu viele, droht man abzuschweifen. Sprachliche Intensität, Bilderdichte, besonders der grundsätzlich allusive Charakter der lyrischen Kurzformen beflügeln die Phantasie und werden schnell zu Stolpersteinen, an denen sich Eigenes, vorzugsweise Erinnertes, aufhängt.

«Jeder Mensch / eine Gruft seiner Erinnerungen. / Fleischumkleidet / in Zellen gesperrt, verrotten sie / gewohnheitsgemäß.»

Günter Kunerts Gedichtband findet in der schmalen Lyrikecke im Regal rechts neben der Tür einen Gefährten. «Stilleben» heisst der 1983 erschienene Band, der siebenunddreissig Jahre auf einen zweiten Kunert gewartet hat. Freilich nur in meinem Regal, denn der überaus produktive Dichter hat auch in den letzten Jahren Band um Bändchen publiziert. Jemand meines Namens hat in «Stilleben» ein Exlibris auf den Schmutztitel geklebt, was bei einer Klappenbroschur vielleicht noch verständlich ist, aber zwei, drei Generationen zuvor wohl nur Buchunkundigen eingefallen wäre. Zu lesen ist dort, dass ich das Buch seinerzeit «von Frau Runge zum 18. Geburtstag» geschenkt bekam. «Frau Runge», bald nach dem 18. dann «Anneliese», verdanke ich einen guten Teil meiner literarischen Bildung und Erziehung, denn ihre Privatlektionen in der Buchhandlung retteten mich vor dem literarischen Unwissen – vielleicht auch einfach der mangelnden literarischen Begeisterung – der Deutschlehrpersonen am Kreisgymnasium.

Damals begannen die Nachnamen aller Poet*innen mit K: Karl Krolow, Günter Kunert, Sarah Kirsch, Reiner Kunze und Uwe Kolbe. Eine Namenreihe, an der sich deutsche Geschichte erzählen liesse. Alle mussten sie sich frei schreiben von den deutschen Diktaturen. Krolow verdingte sich als junger Mann in NS-Zeitschriften, was er, so nehme ich an, später als Bürde durch sein Leben getragen hat. In der Bibliothek Suhrkamp erschien sein Büchlein «Fremde Körper» (1959), das ich irgendwann Mitte der 80er-Jahre zuerst las. Bei jeder Lektüre erstehen mit kräftigem Pinsel gemalt die Bilder seiner Gedichte in meiner Leserphantasie: «Sie kam aus ihrem Versteck. / Sie wird Hand an uns legen. / Noch dürfen wir die Häuser verlassen / Und in den Glühbirnen-Himmel sehen. / Aber in den Vorstädten / Sind schon Spruchbänder gespannt. / Bald werden die Straßenkämpfe / Uns erreichen.» Sein Gedicht «Die Gewalt» ist als ein Echo auf die brutale Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes von 1956 verstanden worden.

Kunert, Kunze und Kirsch durchlebten die frühe DDR bis zur Ausbürgerung von Wolf Biermann, gegen welche sie alle drei Position bezogen. Und ebenso wie diese drei wechselte auch der jüngere Uwe Kolbe schliesslich aus dem Osten in den Westen. Der Osten war, so schien es, poetisches Gebiet; der Westen war Literaturmarktland.

In der alphabetisch geordneten Rubrik deutschsprachiger Nachkriegslyrik auf dem Regalbrett über den Kinderbüchern nimmt der Buchstabe K besonderen Raum ein. «Unverkäufliches Leseexemplar» ist auf den Schmutztitel meines Exemplars des 1986 bei Fischer erschienenen Bändchens «eines jeden einziges leben» von Reiner Kunze gedruckt. Als Buchhandelslehrling im ersten Lehrjahr musste man mit dem Vorlieb nehmen, was in der Leseexemplarkiste übrig blieb: also keine Schwartenromane oder Reiseführer. Gedichte waren ohnehin als Buchhandelsware uninterressant, so uninteressant, dass es durchaus beachtenswert war, wenn ein Verlag einen Lyrikband als Leseexemplar verschickte. «Das gedicht ist ergebnis eines prozesses der allen marktgegebenheiten hohnspricht», schreibt Kunze im Nachwort, und auch in der Buchhandlung nahm sich niemand Zeit, das Leseexemplar zu studieren. Ich steckte es ein. Ob ich es damals auch las? Die aphoristische, Position beziehende, mitunter plakative Lyrik Kunzes sprach mich an: «Wir haben die erde gekränkt, sie nimmt / ihre wunder zurück // Wir, der wunder / eines». Später fand Kunzes Gedichtband «auf eigene Hoffnung» (zuerst 1981) seinen Weg ins Regal. Die Taschenbuchausgabe von Fischer weist darauf hin, der Autor habe den Geschwister-Scholl-Preis erhalten; als Motto dient befremdlich ein Zitat des Faschisten Gottfried Benn. Nie habe ich verstanden, wie man den Krolows und Anderschs ihre Mitläuferschaft vorhalten kann und zugleich einen ästhetischen Schutzwall um Benn errichtet, der die Ideologie des Verbrechens in seinen Essays vertrat und nie wirklich zurücknahm.

Die reifen Stachelbeeren am Hochstamm neben dem Kompost, auf dem ein Kürbis üppig wuchert, sind ein Gedicht. Also, wenn man nicht hungrig ist und vielelicht auch schon genug Konfitüre eingekocht hat. Auf engem Raum prall gefüllt mit kräftigen Geschmacksfarbstrichen. Ich widerstehe der Versuchung, denn ich verscheuchte die Amsel, stünde ich auf, um sie zu pflücken.

«Gedicht des Christian mit der Amsel», heisst ein Text des noch nicht 30jährigen Uwe Kolbe aus dem 1987 bei Suhrkamp und ein Jahr zuvor beim Ostberliner Aufbauverlag erschienenen Band «Bornholm II». Doch meine Amsel ist kein «gewöhnliches Tier». Sie ist ein Bausch, der sich – bei ein, zwei Meter Distanz zu mir – gelassen habachtig durch’s Gefieder schnäbelt, nicht gewöhnlicher als ich, der ich sie beobachte. «Bornholm II» steht im Regal neben «Abschiede und andere Liebesgedichte», die Kolbe schon 1981 bei Aufbau publizierte. Kolbes Anwesenheit im Bücherbord ist auch «Frau Runge» zu verdanken, aber fremd jetzt wie eine abgestreifte Häutung.

Fast dreissig Jahre stand das Büchlein «Irrstern» (1986) von Sarah Kirsch in meinem Regal, bis ich es wieder in die Hand genommen und schätzen gelernt habe. Am 21. Juli 1990 schrieb Hartmut Tödt, besonders begeisternder Literaturdozent an der Kieler Universität, einen wohlmeinenden Fingerzeig für mein weiteres Studium in das Buch.

«Ich rede mit vollgefressenen Elstern die mir die Wäscheleine besetzen daß ich gewaschene Stücke nur noch über den Zaun hängen kann und habe im ersten Sommer in diesem Garten stürzender Bäume zwischen zwei Apfelbissen zu viel schon gewußt und neue Nachricht erhalten […].» Meine Wäsche würden die Spatzen verderben, stellte ich sie am günstigen Ort in den Garten.

Die Häufung von Poet*innen, deren Nachnamen mit K beginnen, in meinem Bücherbord ist von empirischer Zufälligkeit. Die Beobachtung reicht kaum über das Bücherbord hinaus, aber es liesse sich an diesen fünf Autor*innen gewiss ein vertiefter Einblick in die Lyrik gewinnen. Mir immerhin öffnet das kleine Bücherbord ein Fenster zu vertrauten Versen, zu fremd gewordenen, zu nun erst angelebten.

Wenige Tage, bevor sein Gedichtband erscheinen konnte, verstarb Günter Kunert im September 2019. Neue Gedichte eines 90jährigen. «Kein Tag ohne / eine einzige Zeile / ist der Schlüssel», beginnt eines der Gedichte: «die letzte steht immer unter dem Nachruf: / Von Blumenspenden bittet man abzusehen. / Nun aber von fremder Hand», endet es.

Auf Seite 21 steht ein abgründig schlechtes Gedicht.

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Christian von Zimmermann ist Dozent für Neuere Deutsche Literatur und Editionsphilologie am Institut für Germanistik und am Walter Benjamin Kolleg der Universität Bern.
Seit 2020 führt er den Blog "LITERATURFORUM.CH". Auskünfte über seine akademische Tätigkeit gibt auch die private Homepage: vonzimmermann.ch