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Zwei Wochen in Ostholstein – ein Jahr im Sand County

Der Eintritt in die Urlaubswelt ist spektakulär. Er beginnt mit einem geöffneten Fenster am Morgen nach der Anreise. Ostholstein. Dabei weckt das Wort spektakulär vielleicht falsche Assoziationen, wenn es nicht mit Spektakel, Lärm, verbunden wird. Durch das Fenster dringt Lärm, ein Hörspektakel. Aber es sind keine ungezählten Spatzen, wie sie die soundscape meines heimischen Gartens bestimmen, sondern es ist das nervöse Plappern der Stare, die eine nahe Birke bevölkern. Nur im Hintergrund also Spatzen, Meisen. Am Abend schliesslich sind in der Ferne Gänse zu hören, ein Kranich auch, mindestens einer. Einige Tage später üben Gänse Formationsflüge in mehreren grossen Gruppen von je vier, fünf, sechs Dutzend Vögeln, wohl Kanadagänse, die ich aus meiner Jugendzeit in Ostholstein gar nicht kenne, die aber im Zeitraum von zwei, drei Jahrzehnten die bestimmenden Grossvögel hier geworden sind. Einmal sehe ich dann tatsächlich drei Kraniche im Tiefflug über einen Stoppelacker fliegen – in paralleler Linie zu einem Knick, dessen Buschwerk bereits grob in der Höhe zurückgeschnitten worden ist. Mehr Kraniche sah ich nur in Berlin, als ich den Blick über die Gedächtniskirche in den blauen Himmel hob und hoch oben sieben der lang gestreckten, ebenso zerbrechlich wie stolz wirkenden Vögel in den Norden zogen.

Die Kanadagänse, Nilgänse, Kraniche sind allmählich zahlreicher geworden; an den Strassen werden die Knicks mit grossen Heckenschnittfahrzeugen gestutzt, so dass sich die Knickbepflanzung ändert. Links und rechts der Strasse zwischen Marxdorf und Gross Schlamin bildet sie meterhohe, blickdichte, senkrechte grüne Wände. Der Knickschnitt erfolgt an einer vertikalen Linie und nicht an der horizontalen. In einer Feldzufahrt kann man das Leben dahinter sehen: zahlreiche Hasen, ein Bussard, Rehe. An den dicken Stümpfen älterer Weissdorn-, Hasel- oder Schlehensträucher erkennt man gut die alte Schnitttechnik. Bis auf einen halben Meter, höchstens einen Meter sind die Stämme mehrfach gestutzt worden und bilden nun dicke, mit vielen Astschnitten vergangener Jahresrückschnitte versehene Stümpfe. Die jüngeren Triebe wachsen seit einiger Zeit schon senkrecht in die Höhe und erreichen fünf, vielleicht sechs Meter. Ich stelle mir vor, wie sich die Ökologie des Knicks durch die andere Schnitttechnik wandelt.

Den Veränderungen ist es gleichgültig, ob sie die Landschaft für einen verfremden, der hier vor vier Jahrzehnten aufwuchs. Auch der städtische Raum ändert sich. Die Aula des Gymnasiums ist abgerissen – auch das Lehrerzimmer samt dem Büro des Schulleiters, in welchem die Inhalte der Schülerzeitung zensiert wurden. Der Rest des Schulgebäudes wird folgen. Es ist unsinnig, die vielen kleinen Veränderungen aufzuzählen, die sich zwischen die erinnerte und die erlebte Welt schieben. Der trötende Ruf des Kranichs von irgendeinem versteckten Weiher, den ich nicht zu finden vermag, gehört in der soundscape der einstigen Heimat zu den schönen Neuigkeiten. Immerhin stehen hie und da noch Kornblumen und Klatschmohn im goldbraunen Getreide.

Kanadagänse zieren auch den wunderschön gestalteten Einband meiner Ferienlektüre. Ich neige dazu, meine Begeisterung für dieses Buch zur Alterfrage zu erklären, denn wer viel liest wird vielleicht fast zwangsläufig einmal an den Punkt geführt, an dem alle Narrationen fragwürdig werden. Man wird ungeduldiger gegenüber den Geschichten. Ist der traditionelle realistische Roman nicht manipulativ? eine in fingierter Ereigniskette zur Evidenz gebrachte Moral oder Weltanschauung? Je kohärenter erzählt wird, desto mehr sollte man auf der Hut sein, und die grösste Skepsis ist angebracht, wenn sich Erzählungen als historisch, biografisch oder autobiografisch ausgeben. Die vielleicht einzige kohärente Darstellung des Lebens mit einigem Anspruch auf Wahrheitswert ist die berühmte Lebenstreppe.

Meine Ferienlektüre ist ein Klassiker der ökologischen Literatur: A Sand County Almanach von Aldo Leopold, zuerst 1949 nach dem Tod des Verfassers erschienen: eine Empfehlung von Jessie J., die die Aufforderung annahm, auf Facebook zehn ihrer Lieblingsbücher zu posten. Der mir gänzlich unbekannte Aldo Leopold neben Horkheimer, Arendt und Sartre.

Aber man irrt sich leicht, und als ich den beiden Jüngsten am Strand vorschlage, ihnen aus meinem Buch einige Absätze vorzulesen, lauschen sie aufmerksam auf jedes Wort. Ich solle noch mehr lesen, sagt der 12jährige. Es sei so eine schöne Sprache. Die Jüngste stimmt zu, ganz im Bann unbekannter Vogel- und Gräsernamen.

Tatsächlich hat mich schon die erste Seite des Buches getröstet, dass ich mir die deutsche Übersetzung und nicht das englische Original gekauft habe. Die Übersetzung von Jürgen Brôcan, 2019 unter dem Titel Ein Jahr im Sand County im Berliner Verlag Matthes & Seitz erschienen, ist besonders im ersten Teil des Buches von herausragender Qualität. Die Poesie der Pflanzen- und Tiernamen, die Malerei der Landschaft im Wechsel der Jahreszeiten – all dies ist spektakulär in dem Sinn, wie der Ruf des Kranichs als Hörspektakel erscheint. Aldo Leopold hat kein Tagebuch geschrieben, sondern Memoiren, Beobachtungen einer durch vielfältige Einflüsse und ursächlich meist durch den Menschen veränderten Landschaft. Leopold sieht und hört die Landschaft, und er ist in einer Weise naturkundig, dass er ihre Veränderungen zu beschreiben vermag. Gerade der erste Teil, das Tagebuch, gehört in die Rubrik ‘lyrische Prosa’.

Aldo Leopold berichtet auch vom Ausstreben der Wandertaube, die einst in grossen Schwärmen durch nordamerikanische Gebiete zog. Am Ratzeburger See existiert seit einigen Jahren eine Gruppe einiger Hundert Nandus, die sich dort festgesetzt haben. Beides Zeichen einer fortwährenden Veränderung der naturnahen Kulturräume, die sich der Beobachtung, dem Zuhören öffnen, aber für sich keine Geschichten erzählen. Aldo Leopold ist ein Meister der Beschreibungskunst; er folgt dem geheimen Protokoll der Natur beginnend beim Erwachen der ersten Morgenstimme eines Vogels oder beim zarten Frühlingsblühen des unscheinbaren Felsenblümchens: «Keine Dichter besingen es. Irgendein Botaniker gab ihm einmal einen lateinischen Namen und vergaß es dann.» Leopold seziert nicht Blumen oder Getier; er beschreibt die Ökologie einer in den Jahreszeiten und den grossen Zyklen natürlicher und menschgemachter Wandlungsprozesse sich verändernden Landschaft. Es entstehen natürliche Gemälde, beziehungsreiche Systeme, die zu Reflexion und Betrachtung statt zu Geschichten einladen: lyrische Prosa vom Feinsten. Die Beschreibung teils längst verlorener Naturräume («Wildnis»!) zu lesen, ist Eskapismus, gewiss, aber man kann mit diesem Buch auch das Schweigen wieder lernen, das Sehen und Hören – auch einer überaus poetischen Sprache. Es wäre ein Buch für die einsame Insel, für das Farmhaus im Hochwasser auf der Ebene: «Mir ist keine Einsamkeit bekannt, die so sicher ist wie die, die von einer Frühjahrsflut bewacht wird; auch den Gänsen nicht, die mehr Formen und Abstufungen des Alleinseins gesehen haben als ich.»

Vielleicht gefällt mir einfach, dass Leopold lange einsame Spaziergänge mit seinem Hund unternimmt, während ich, schrottkniebedingt humpelnd, nur die nächste Umgebung erkunden kann. Anstelle eigener ausgedehnter Wanderungen erlebe ich in zwei Wochen Ostholstein ein ganzes Jahr im Sand County.

Christian von Zimmermann ist Dozent für Neuere Deutsche Literatur und Editionsphilologie am Institut für Germanistik und am Walter Benjamin Kolleg der Universität Bern.
Seit 2020 führt er den Blog "LITERATURFORUM.CH". Auskünfte über seine akademische Tätigkeit gibt auch die private Homepage: vonzimmermann.ch