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Vielleicht mochte der Buddha keine Krähen

Im Gegensonnenlicht zeigt sich das feine Radnetz einer gerade versteckten Spinne. Es spannt zwischen dem Lenkrad meines Fahrrades und der kleinen Betonmauer des tieferliegenden Unterstandes, die sich über das Bodenniveau des Vorgartens erhebt. Vorgarten ist ein lustiger Ausdruck, denn an der Stelle sorgsam gepflegter Rabatten findet sich hier ein nadelbedeckter Boden mit wenigen Natursteinplatten. Gut geeignet jedenfalls als Abstellplatz für das Fahrrad, das nun schon einige Wochen unbenutzt dort auf dem aufgeklappten Ständer ruht. Spinnennetz und Fahrrad bilden ein schönes Symbol für den eingeschränkten Radius.

Dass der Vogelbrunnen gleich schon wieder erwähnt wird, ist ebenfalls meinem weiterhin geringen Bewegungsraum geschuldet: Am Abend sass dort eine schüchterne Kohlmeise zaghaft am Rand und nippte nervös vom Wasser. Sie nutzte die günstige Gelegenheit. Das frechere Spatzenvölkchen tobte gerade nicht herbei. Die Amsel, die mitunter – flatsch – einfach mitten im Vogelbrunnen ihr Bad nimmt, würde sogar die Spatzen auseinander scheuchen, war aber schon länger nicht mehr da.

Die situationsbedingt erhöhte Aufmerksamkeit für die Tiere in meiner Mitwelt weckt die Erinnerung an eine liebe kluge Freundin, die leider viel zu früh verstorben ist. Die Krankheiten der Katzen, denen sie sich als »Dosenöffnerin« widmete, waren ihr genauso wichtig wie ihre eigene schwere Krankheit. Bis zuletzt. In einer spannenden Arbeit über Jeremias Gotthelfs literarisches Verhältnis zu Tieren, zitierte sie den Schriftsteller: »Aber leben möchte ich noch ein Jahr, um zu vernehmen, wie und was Kühe und Hühner sprechen.« Als letzten Satz ihres Textes fügte sie hinzu: »Und wer möchte das nicht.« Diese Zeit war ihr gegönnt, aber nicht viel mehr.1Julia Eva Wannemacher: »Vom Symbol zum Individuum: Tiere im Werk Jeremias Gotthelfs«. In: Literatur für Leser 39 (2016), 141–151.

Vor einiger Zeit schon entdeckte ich bei antiquarischen Streifzügen den Roman »Jack« des einmal populären Schweizer Naturschriftstellers Paul Vetterli. Eine recht banale Försterfamiliengeschichte ist in diesem 1924 erschienenen »Roman einer Krähe« mit kenntnisreichen und empathischen Einsichten in die Krähenbiografie verbunden. Selbst sprachlich bemüht sich Vetterli darum, eine möglichst dichte Beschreibung der Erlebniswelt der Krähe zu geben. Keine Hochliteratur, aber ein berührendes Zeugnis für die Zugewandtheit eines Menschen gegenüber dem Tier.

Krähen sind überhaupt faszinierende Vögel, besonders die japanischen Dickschnabelkrähen, deren vorwitziges Bemühen, einen Getränkeautomaten zu plündern, mich in Sapporo die Zeit vergessen liess.

Ein geringer Bewegungsradius ist immer ein guter Anlass für ausgedehntere, in gewissem Sinn vielleicht ausschweifende Lektüren an den Rändern der Lesegewohnheiten. Zumindest aber gibt es einen Raum für zufällige Denkanstösse und mäandernde Gedankengänge.

Immer wieder beim Lesen der Reden Buddhas fällt mir auf, dass Tiere in den Gleichnisreden nur Instrumente moralischer Belehrung sind, aber nicht aus der eigenen Existenz heraus wirken. Die Unachtsamkeit einer Futter suchenden Maus, die von einer Katze zerlegt wird, ist Bild für den Mönch, der seine erotischen Wünsche nicht kontrolliert und entsprechend von seinen Begierden ‘zerlegt’ wird. Meist stehen die Tiere bloss für Gier, für animalische Triebnatur – wie in christlichen Kontexten ja auch. Manche Tiere erscheinen als dumm – wie die Krähen – oder als elend – wie der Schakal. Elefanten immerhin können so erfahren sein wie alte Mönche. Buddhas Aussagen über Tiere bleiben aber anthropozentrisch.2Paul Waldau: »The Specter of Speciesism: Buddhist and Christian Views of Animals.« Oxford 2003. Vielleicht mochte der Buddha generell keine Krähen. Das Tierindividuum als konkretes Gegenüber und Mitgeschöpf liegt, wenn ich als Laie richtig sehe, weit ausserhalb des Denkhorizonts der Reden. 

Kann man Spatzen, die immer im Pulk ums Haus fliegen, als konkrete Einzelne wahrnehmen? Als Mitgeschöpfe immerhin, die sich breit machen im Garten, durchs Fenster schauen und die eine oder andere menschliche Dienstbarkeit wie etwa das Auffüllen des Vogelbrunnens gern entgegen nehmen.

Das letzte Gedicht des letzten Gedichtbandes von Günter Kunert (»Zu Gast im Labyrinth«, 2019) trägt den Titel »J.W.V.G.«. Man könnte annehmen, Kunert wolle sich hier in die Tradition desjenigen Dichters stellen, dem die höchste Verwirklichung des Menschseins gerne nachgelobt wurde. Kunerts Gedicht ist aber eine Abrechnung mit Goethes Empathielosigkeit, die ihn auch dazu geführt habe »ein Todesurteil« zu unterschreiben: »das war der pure Mord«. Kunert spricht von Goethes Gutachten zum Todesurteil der Kindsmörderin Höhn, das Goethe, wie man inzwischen gegen die Verteidigung seiner Verehrer wohl feststellen kann, durchaus entscheidend mitprägte: trotz Gretchen. Auch das apologetische Lieblingsargument, jemand habe nur im Geist seiner Zeit gedacht und gehandelt, kann angesichts einer auch damals breiten Diskussion um Kindstötung und Todesstrafe hier nicht angebracht werden.3W. Daniel Wilson: »Goethe, his duke and infanticide. Newdocuments and reflections on a controversial execution. In: German Life and Letters 61 (2008), S. 7–32.

Wer sich wenig bewegt und vielleicht, wie eben ich, Schmerzen an der entscheidenden Wahrnehmungsschwelle hat, schläft schlecht und liest darum zur Nachtstunde allerlei Digitales. Im Berner Online-»Bund« erschien neulich kurz vor Mitternacht ein Kommentar von Martin Ebel, in welchem er davor warnt, allen Geistesgrössen ihre unbedachten und nebensächlichen Zitate vorzuhalten und damit das Kind (namens Hegel, Kant, Voltaire etc.) mit dem Bad auszuschütten.4Martin Ebel, »Muss man diese Denker canceln?« In: derbund.ch vom 20.09.2020 Problematischer noch sind die naiv biografisch argumentierenden Dekonstruktionen der literarischer Werke: Hat nicht ein durchaus auch fragwürdiger ‘Sebaldianismus’ wiederholt schnüffelnd die Nase unter äusserlich unverdächtige Rockschösse – also literarische Werke – gesteckt, um dann mit lautem »Oho!« festzustellen, dass es unter diesen menschlich müffle? 

Nun ist der Skandal auch eine Frage der Fallhöhe. Das macht es ja so uninteressant, eigene Unzulänglichkeiten zu thematisieren. Wer schon kann einen solchen Anspruch auf Reinheit erheben, dass der Fleck auf der Weste überhaupt auffällt? Es ist ja die Frage, ob wir denn von Kant, Hegel, Voltaire moralische Integrität erwarten. – Und den Menschen Goethe, der eben auch ein Höfling und alternder Lüstling war, konnten nur verehrungswütige Germanist*innen und Anthroposoph*innen in den Stand idealer Menschheit heben. Widersprüchlichkeit und Ambivalenz sind uns zu vertraut, als dass sie nicht nur bei falschen Erwartungen überraschend wirkten. Schon seit je steht in der Literatur die Frage im Raum, ob der Mensch eher durch die schattenlose Idealisierung grosser Gestalten auf der Bühne und in der Geschichte zur eigenen moralischen Verbesserung angehalten wird oder durch menschlich nahe, eben ambivalente Gestalten.

Empathielosigkeit, Anthropozentrik, Rassismus und Misogynie in den Texten der historischen Gestalten festzustellen, heisst ja vor allem, das Bewusstein für diskriminiernde Denkformen zu schärfen. Und hier gibt es offensichtlich gravierende Unterschiede. Buddhas Erleuchtetsein mag durch die Grenzen seines Blicks auf Tiere einen Kratzer erhalten, deswegen stecken seine Reden dennoch voller lehrreicher Lebensweisheit. Goethes vollkommenes Menschsein mag in Frage gestellt sein, nicht aber sein literarisches Werk.

Fragwürdig ist eher, dass es überhaupt die Idee solcher Idealität gibt. An dieser zu zweifeln, bedeutet gewiss nicht, das Kind mit dem Bad auszuschütten. Da müssten Kind und Bad schon essentiell zusammenhängen. 

Da ist aber die Grenze, an der wir mit Entschiedenheit widersprechen sollten: Wenn wir nämlich festellen, dass eine uns unerträgliche Diskriminierung wesentlicher Bestandteil eines Lebens, eines erworbenen Reichtums oder eines Denksystems war oder ist. 

Den Sperlingen, die um mein Haus fliegen, hätte Rudolf Steiner die Individualität abgesprochen. Tiere haben nur ein kollektives Ichgefühl, kein individuelles. Auch sonst legte Steiner Wert darauf, den Unterschied zwischen Mensch und Tier deutlich zu markieren. In einer Art ‘Antievolutionstheorie’ phantasiert der Altvater der Anthroposophie, dass die Tiere in einem Reinigungsprozess aus der Entwicklungslinie des Menschen abgesondert worden wären: das Tier als Degenerationserscheinung auf dem Weg des Menschen zum Menschsein. Nicht der Mensch entwickelt sich qua Vernunft über seine eigene Tierheit hinaus, wie die Aufklärung meinte, sondern das Tierische wird als Ausscheidungsprodukt qua Reinigung und Züchtung vom Menschlichen abgetrennt. Dabei unterscheidet Steiner streng hierarchisch die niederen, zuerst ausgeschiedenen Tiere (Fische, Amphibien) von den höheren, erst spät auf dem Weg der Menschwerdung ausgegliederten Tieren (Vögel, Affen, Indianer – ja, Indianer). 

Dieser Reinigungsweg des Menschen zu höherer Geistigkeit und Individualität vollzieht sich für die Gattung ebenso wie für das Individuum. Schon im Mutterleib beginnt der Aufstieg vom Leben im Unterleib zur Geistigkeit. Darum ruft Steiner Ende Dezember 1922 die anwesenden »Herren« in Dornach auf, ein besonderes Augenmerk auf die Gefahren der Schwangerschaft zu legen.5Rudolf Steiner: »Zehnter Vortrag«. In: Ders., Über Gesundheit und Krankheit. Grundlagen einer geisteswissenschaftlichen Sinneslehre. Achtzehn Vorträge gehalten für die Arbeiter am Goetheanumbau in Dornach vom 19. Oktober 1922 bis 10. Februar 1923. Dornach 1983, S. 175–193. Insbesondere sei es wichtig, niederziehende Einwirkungen auf den Geist der Mutter, von dem allein das Wohl und Wehe des Kindes abhänge, zu vermeiden. Dazu zählt Steiner etwa den Anblick körperlicher Deformationen wie etwa denjenigen krummnasiger Menschen, da dieser Anblick sich auf eine spiegelverkehrte Krummnasigkeit des Kindes auswirke. Ja, dazu gehören auch Muttermale des Kindes, die wohl von irgendeiner geistigen Unreinheit der Mutter herrühren. Dazu zählt Steiner aber auch Einflüsse aus solchen Seitenwegen der Menschheitsentwicklung, die als ausgegliedert zu gelten haben: Ausführlich warnt er daher vor der Lektüre von ‘Negerromanen’ und vor ‘Negertänzen’ (Jazz?). Da müssten gar keine Afrikaner physisch nach Europa kommen, um mulattische Kinder hervorzubringen. Man kann das als alberne Spinnerei eines ohnehin für Absurditäten verdächtigen Geistes abtun, aber: Hier stehen Rassismus, Anthropozentrismus, ja, Ansätze zu einer Eugenik im Zentrum eines Anschauungsgebäudes, auf das sich noch heute zahlreiche Menschen verehrend beziehen. Und selbst ein anerkannter Historiker wie Jörn Rüsen hat sich an der Reinwaschung der Anthroposophie Steiners vom Rassismusvorwurf beteiligt.6Jörn Rüsen: »Rassismus. Modernität und Anthroposophie.« In: info3 (1998), Nr. 12, 11–13. (Erwartet man zu den erwähnten Vortragspassagen einen distanzierenden oder mindestens einordnenden Kommentar der Herausgeber der Vorträge? 1983? Fehlanzeige.)

Steiners Phantasmen erinnern fatal an Verschwörungstheorien der Gegenwart. Dass Peter Sloterdijk ausgerechnet Steiner im November 2011 als den »größten mündlichen Philosophen des 20. Jahrhunderts«7https://www.anthroposophie.ch/de/kuenste-architektur/news/artikel/philosoph-peter-sloterdijk-im-rudolf-steiner-podiumsgespraech-ausstellungseroeffnung-vitra-design-m.html und als ein ›ganz normales Genie‹ bezeichnet haben soll, macht stutzig. Ging Böhmermann verkleidet als Sloterdijk zum Vortrag? Sinken wir auf die Knie vor Steiners hohem Geist: »Wenn Sie nun hinschauen auf den Menschen, und Sie sehen eine schiefe Nase, Sie sehen Muttermale, da braucht die Mutter nicht gerade ein Muttermal gesehen zu haben, sondern sie kann irgend etwas anderes gesehen haben, wodurch sie das Blut des Kindes in eine falsche Richtung gebracht hat.« Echt jetzt? Der grösste mündliche Philosoph? Ersparen wir uns den Wortlaut der rassistischen Äusserungen.

Es gibt immer eine Grenze, an der wir entschieden »Nein« sagen müssen.

Wir werden sie nicht finden, die ideale Menschlichkeit in den hinterlassenen Schriften legendarisch überhöhter Persönlichkeiten. Manchmal weht einen Mitgeschöpflichkeit aus ganz unbedeutenden Texten an, und manchmal hat man einen Menschen gekannt, der Mitgeschöpflichkeit einfach gelebt hat.

Regen und Wind haben das Radnetz fast gänzlich zerrissen. Gerne möchte ich entschieden den Raum wieder erweitern…

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Christian von Zimmermann ist Dozent für Neuere Deutsche Literatur und Editionsphilologie am Institut für Germanistik und am Walter Benjamin Kolleg der Universität Bern.
Seit 2020 führt er den Blog "LITERATURFORUM.CH". Auskünfte über seine akademische Tätigkeit gibt auch die private Homepage: vonzimmermann.ch