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An Grenzen stossen: von ‘Ulidigen’ und Narzissten

Es ist erstaunlich, wie dumpf einen Schmerzmittel und wenig Bewegung in kurzer Zeit machen können. Latente Übelkeit, Kopfschmerzen von der unangenehmen Sorte… Lässt dieser Zustand allmählich nach, wollen Kopf und Körper vor allem eins: tätig sein. Unruhe macht sich breit, weil ja der Bewegungsradius weiterhin eingeschränkt ist, das Bein eben doch vor allem hoch gelagert werden muss und die Suche meines Geistes nach Beschäftigung sich immer gerade auf jene drängenden Aufgaben stürzen will, die beim besten Willen nicht auf dem Sofa liegend zu bewältigen sind.

Ich bin ja in meiner Sprachpraxis eher dialektfern, aber ulidig ist ein wirklich treffendes Wort für diesen Zustand, der sich mit Kribbeln und Spannungsgefühlen ankündigt und rasch dadurch bemerkbar macht, dass man eigentlich nicht stillsitzen kann (in meinem Fall aber gerade weitgehend sollte). Es ist dieses Gefühl, als wollte sich der Körper häuten, als sässe halt die Haut zu eng. Wunderschön so eine slow-motion Aufnahme einer sich häutenden Libelle. Die gerade noch eigene Haut im Übergang zur Exuvie. Aber das Gefühl, sich häuten zu wollen und es nicht zu können … Für mich ist ulidig der Gefühlszustand in dem Moment, in welchem dieses unbefriedigte Spannungsgefühl in die unausweichliche mürrische Stimmung übergeht. Es ist zum sich selber nicht Mögen.

Man braucht nicht viel Phantasie, um zu erkennen, was hier passiert: Das kleine unbeugsame Ich mit seinen Zielen, Wünschen, Gedankengebäuden und Plänen reibt sich an der Welt, der all diese Vorstellungen gleichgültig sind. Dabei verhält sich die Welt in ungefähr wie die römische Grossmacht, die schon fast ganz Gallien besetzt hält – bis auf ein kleines manchmal herzhaft ulidiges bretonisches Dorf. Denn die Welt, an der ich mich reibe, ist ja der eigene dumpfe Kopf, der sich noch von der Tablettenkur erholt, und das Knie, welches erst noch das eigene werden soll. Ein Belagerungszustand eher als eine Trennung zwischen Drinnen und Draussen.

Ulidig, so könnte man wohl sagen, ist das gekränkte Lebensgefühl des naiven Narzissten. Zwar haben wir theoretisch längst begriffen, dass wir nicht im Zentrum des Alls stehen, sondern irgendwo auf einem kleinen Flecken im Kosmos der Welten abhängen, und auch verstanden, dass wir nicht einfach göttlicher Herkunft sind, sondern näher mit Kühen verwandt sind als mit Engeln, und wir haben sogar grundsätzlich durch einen Anstoss, den Freud gerne sich selbst zumass, eingesehen, nicht Herr*in im eigenen Haus zu sein, aber wenn es um die ganz praktischen, nahen Dinge geht, dann dreht sich die Sonne eben doch um uns.

Eigentlich greift immer alles ineinander, beim Lesen und Schreiben auch. Man liest Texte, als seien sie irgendwie in einer bestimmten kontinuierlichen Haltung, einer stringenten Argumentation geschrieben, dabei verdaute der Darm gurgelnd ein Essen, schmeckte die ganze Mundhöhle nach Kaffee, spürten die Finger den Druck gegen die Tasten, fuhr zwischen zwei Satzzeichen ein Zug vorbei, dröhnte eine Baumaschine in die Stille der Adjektive, war es zu warm oder zu kalt. Und hej, da gibt es immer auch noch die Spatzen, die durch die Büsche stürmen, manchmal ins Fenster schauen und Badefeste im Vogelbrunnen feiern.

Jetzt übrigens schmerzt gerade das Bein vom längeren Sitzen und die Sonne scheint auf den Holzboden, umrahmt vom Schatten des Fensters, in den sich die Hündin niederliess und sich nun wohlig gewärmt dem Schlaf überlässt.

«Du hast so eine biedermeierliche Lebenshaltung«, sagte kürzlich eine gute Freundin, und wer müsste nicht schmunzeln, wenn sie oder er dies im Videochat aus einem leuchtend roten Mund mit strahlendem Augenaufschlag hörte. Biedermeier, das ist der Lebenszustand nach allen Kränkungen. Es passt also nicht dazu, gerade ulidig zu sein.

Übrigens narzisstische Kränkung: Es könnte ja sein, dass nicht einmal dieses ulidige Gefühl dem Ich ganz gehört. Jedenfalls ist Misstrauen angebracht, denn möglicherweise ist im Moment die Neigung zum mürrischen Unmut affiziert von der allgemeinen ulidigen Stimmung, die sich auf Protestveranstaltungen und in Kommentarspalten der Onlinemedien kundtut.

Auch das ist so ein Stück Welt, wie die Schmerzen, die Sonne und die Spatzen: der lautstarke Maskenkoller, der sich irgendwann so in die Gedanken schiebt, dass er ja auch erwähnt werden muss. Überall regt sich jemand auf: In Genf und Berlin schreien sie, man brauche keine Masken, wenn man Abstand halten könne. In Zürich schimpfen Ladenbesitzer, man brauche keine Abstandsregeln, wenn man doch eine Maske tragen könne. Manche ballt die Faust in der Tasche und denkt, man bräuchte eigentlich gar nichts als ein bisschen Lebensfreude, für deren Nichtvorhandensein mal die Maske, mal der Abstand, meist beides verantwortlich sein müssen. Und alle, denen irgendetwas nicht an den Massnahmen passt, klagen über den Verlust von Freiheitsrechten.

Ich trage ein Stück Stoff im Gesicht. Es ist mit zwei Laschen an meinen Ohren verhängt; den metallenen Bügel habe ich an die Nase gedrückt. Auf der Haut stellt sich rasch ein gewisses Feuchtigkeitsgefühl ein. Die Maske trage ich beim Arzt, bei der Physiotherapie, im öffentlichen Verkehr, manchmal im Supermarkt, künftig wohl in manchen Situationen an der Universität. Ich trage sie auch über der Nase.

Fertig. Mehr ist es nicht, jedenfalls kein Politikum.

Interessanter als die Maske ist ohnehin unsere Reaktion darauf. Es lohnt sich einmal hinzuschauen, was einen eigentlich ulidig macht und sich mit dem eigenen kaspernden Narzissten auseinanderzusetzen. Mir persönlich ist egal, ob Forschungen in einigen Jahren feststellen werden, dass die Maske ein paar Prozent mehr oder weniger Schutz geboten hat als angenommen oder die Pandemie ein bisschen gefährlicher oder ungefährlicher war, als derzeit diskutiert. Für das Tragen der Maske reicht mir bei all diesen Ungewissheiten, dass sie dem Sicherheitsbedürfnis einer Mehrheit entspricht und dass diejenigen, die wir gewählt haben, um in Notsituationen für die Allgemeinheit Verantwortung zu übernehmen in Übereinstimmung mit zumindest einem erheblichen Teil der Wissenschaft nach bisherigem Stand der Erkenntnis festlegen, wo sie zu tragen sei und wo sie getragen werden könnte. Persönlich müsste ich nicht einmal selbst von der Schutzfunktion der Maske für mich oder die Allgemeinheit überzeugt sein.

Ja, reicht es nicht vollkommen, sich die Maske als solidarische Geste gegenüber Risikogruppen umzuhängen – meinetwegen mit innerem Vorbehalt, dafür mit offenem Herzen?

Und die persönliche Freiheit? Die politische Grundhaltung? Mal abgesehen davon, wer alles dort auf die Strasse geht an vielleicht immer noch altvölkisch gesinnten Anthroposoph*innen, Reichsbürger*innen, Impfgegner*innen, Rechtsextremist*innen, QAnonist*innen neben einigen häkelnden Anthroposoph*innen und besorgten liberalen Frauen und Männern, die die andern alle nie gesehen haben… Lassen wir das einmal beiseite, obwohl ich lieber noch zehn Jahre Masken tragen würde als mich mit Populistinnen, rechten Esoterikern und Faschistinnen zu solidarisieren…

Nehmen wir einmal an, es ginge diesen allen wirklich um Freiheitsrechte: Echt jetzt, ausgerechnet bei den Masken, beim Abstand, den weiteren Schutzmassnahmen?

Zum Beispiel erdulden wir seit je das so hoch ideologisierte Schweizer Schulwesen. (Lassen wir die Aufwärmfrage aus, wieviele Akademiker*innen es ökonomisch braucht oder nicht braucht.) Eines wird man kaum bestreiten können: Unser Quotensystem ist planwirtschaftlicher organisiert als irgendeine Kolchose, und es ist das Gegenteil zur Förderung einer freien Entwicklung der Jugendlichen, der wir offenbar als Gesellschaft gegenüber utilitaristischen Zwecken keinen grossen Wert beimessen. Klar ist das System durchlässig und nicht nur schlecht. Wir massen uns aber an, den Jugendlichen zu diktieren, wie sie ihr Leben zu unserem Wohl einrichten sollen, und jede unserer Entscheidungen diesbezüglich hat Folgen für Jahre, für das ganze Leben vielleicht. – Die Maske fliegt am Bahnhof in den Abfall. – Punkt.

Es gibt tatsächlich eine ganze Reihe Regelungen in unserer Gesellschaft mehr, die eine Diskussion über das Verhältnis von öffentlichem Interesse und individueller Freiheit nahelegen. Die solidarisch getragene und rasch wieder entsorgte Maske gehört nicht dazu. Sie ist ein ganz harmloses Stück Welt in unserem Gesicht wie die Spatzen im Vogelbrunnen, die Sonne auf dem Holzboden, der Schmerz im Knie, das leichte Arbeiten im Darm. Klar, kann man sich immer für Aversion statt für Annahme entscheiden, also auch auf Spatzen schiessen und die Fensterläden um das kleine narzisstische Ich gegen die Sonne verrammeln…

Das Jahr 2020 hat alle Chance zum Jahr der Ulidigen zu werden, was etwas heissen will in der Schweiz.

Eben, da bin ich dann selbst polemisch und ulidig. Mein eigener kleiner Narzisst möchte halt gerne die Welt solidarischer, vielleicht sogar staatsbürgerlicher, und er ist tief beleidigt, dass nach drei Jahrhunderten Aufklärung die Menschheit einfach nicht rationaler werden will. (Ja, die dritte Kränkung der Menschheit verdrängt man halt gerne.)

Apropos rational: Tragen wir die Maske, denn nicht nur aus Angst vor dem Tod? Und ist der Boykott nicht Ausdruck einer weiseren Haltung zum Leben? Ich habe in den letzten Jahren geglaubt, dass sich die kulturwissenschaftliche These von der Verdrängung des Todes in unserer Gesellschaft umgekehrt habe, weil wir so viel über die Fürsorge für Sterbende diskutiert haben. Nun scheinen wir im Gegenteil auf dem Gipfelpunkt der Verdrängung angekommen zu sein. Man kann den eigenen Tod gar nicht besser verdrängen als wenn man ihn an das Maskenbedürfnis der Risikogruppen deligiert und auf deren ohnehin geringe Lebenserwartung verweist, um dagegen die eigene naive Unsterblichkeitsphantasie maskenlos zu träumen. Wir sind immernoch dieselben Narzissten wie Iwan Iljitsch und seine Gesellschaft.

Also, den Jungen wollen wir vorschreiben, wie sie zu leben, den Alten, wann sie zu sterben haben, und eine Maske, etwas Abstand und weniger Grossveranstaltungen beschreien wir Unsterblichen als Freiheitsberaubungen? (Naja, eigentlich ‘Ihr’. Hört sich nicht schön an, aber es ist halt eine Differenz.)

In Brass ist aber eine schöne Formulierung, zumal unweigerlich neben dem Zorn ein Hauch Kuss mitklingt. Und mal abgesehen von den ohnehin Verlorenen ist ja die eine oder der andere dieser Ulidigen auch ganz härzig, wie so ein raufwütiger Gallier im Comic eben, man könnte ihn oder sie knuddeln und beiden guten langen Mut für das bisschen Maske wünschen.

Da zählt man sich doch einmal lieber zu den Stillen im Land, beschränkt sich einstweilen darauf, sich an den Vogelbrunnen zu setzen, und möchte allmählich biedermeierlich zu werden. – Gut, einstweilen genügt auch ein bisschen mehr Balance.

Vor ein paar Tagen ist mir aufgefallen, dass die Spatzen ihre Badestunde im Vogelbad vorverlegt haben. Vor dem Spitalaufenthalt waren sie noch vornehmlich in den frühen Abendstunden in der Plastikschale, die passgenau in einen grossen Tonblumentopf eingehängt ist und eben als Vogelbrunnen dient. Jetzt Mitte September fallen die Spatzen am frühen Nachmittag über das Nass her. Es ist ein rechter Lärm für die kleinen Federleute, wenn sie sich zufünft gleichzeitig im Wasser plustern und recken, eintüpfen und wild schütteln, dass die Tropfen im hohen Bogen aus dem Bad auf die Terrassenplatten spritzen.

Vielleicht schleicht eine Katze jetzt zu einer anderen Zeit durch den Garten. Oder die Vögel werden von einer bestimmten Temperatur oder Lichtstimmung dazu getrieben, ihre Gewohnheit zu ändern. Keine Ahnung, wäre aber interessant.

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Christian von Zimmermann ist Dozent für Neuere Deutsche Literatur und Editionsphilologie am Institut für Germanistik und am Walter Benjamin Kolleg der Universität Bern.
Seit 2020 führt er den Blog "LITERATURFORUM.CH". Auskünfte über seine akademische Tätigkeit gibt auch die private Homepage: vonzimmermann.ch