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Nicht wirklich über den Erlenzeisig

Zuerst war ich irritiert, denn ich meinte doch, einen Grünfinken sicher erkennen zu können. Erst allmählich entschied ich mich, dass dies keiner sei. Die Deckfedern waren gelb, grünlich und schwarz, der Bauch hell mit schwarzen Einsprengseln. Der Schnabel hatte mich aber zuerst irritiert, denn er war nicht so kräftig, wie ich ihn von Grünfinken in Erinnerung hatte. Freilich ist es schon eine Zeit her, dass ich einen Grünfinken gesehen habe. Er sass im Herbst zwischen den Buchfinken auf dem Weg beim Friedhof.

Was heisst eigentlich sass. Also, er stand natürlich auf seinen beiden falschherum gelenkigen Beinen.

Die Schwester aus dem Norden half dann. Nach meiner Beschreibung am Telefon vermutete sie gleich richtig, es könne ja ein Erlenzeisig sein. Und einige Tage später erkenne ich zwei Vögel, einen weiblichen, am Bauch helleren und einen männlichen mit schwarzer Haube und etwas kräftiger leuchtendem Gefieder.

Während ich aber die Türkentauben, Amseln, Zeisige, Spatzen, Blau- und Kohlmeisen durch das Fenster am Vogelhaus beobachte, denke ich nicht wirklich über den Erlenzeisig nach, den ich nun zum zweiten Mal dort sehe. (Bei Vögeln haben wir uns an das generische Maskulinum und generische Femininum jedenfalls gewöhnt, obwohl es schon im Kinderlied heisst: «Nein, es ist Frau Storchin.» Erlenzeisighähnchen ist freilich ein putziges Wort – und Erlenzeisigricke? – Nein, Scherz. Es sind Hahn und Henne, ist ja klar.)

Mir schwirrt allerlei durch den Kopf, der sich heute nicht mit dem Federvolk beruhigen lässt. Gut, das ist zunächst nicht weiter verwunderlich, denn es ist Februar. Das kommende Semester steht vor der Tür und bringt nun neben dem gewöhnlichen hohen Arbeitspensum für die Vorbereitung der Lehre auch noch technischen Frust mit sich, weil sich erst nach mehreren Stunden Videoaufzeichnungen für die Vorlesung herausstellt, dass das Mikrophon nicht korrekt angeschlossen war. Also sitze ich kümmerlich – nein eigentlich am Boden zerstört – vor dem Bildschirm und betrachte die Pantomime meines Vortrags – in der Hoffnung, dass irgendwann das Wunder geschieht, und die Filmaufnahme doch noch meine Stimme findet.

Neben der Konzentration auf die Inhalte, neben der Installation zweier Bildschirme und anderer Hilfsmittel fehlt einfach die Routine, um auch noch alle Kabel unter Kontrolle zu halten. Die digitale Lehre wäre ein Teamprojekt mit einem Technikstab. Die ersten drei Tage jedenfalls reihen sich die Pannen aneinander. (Warum muss bei der dritten Wiederholung derselben Vorlesungssequenz plötzlich ein Hubschrauber mit laut vibrierenden Rotoren im Tiefflug über das Haus preschen?) Immerhin: Irgendwann sind die ersten vier Wochen Vorlesung gesprochen, gefilmt, geschnitten und mit Material angereichert.

(Übrigens: Da ergibt sich ein interessanter lebensweltlicher Zusammenhang zwischen Arbeit und Lektüre, wenn man nach der verlorenen Stunden digitaler Arbeit der Tochter Michael Endes Momo vorliest. Man stelle sich Nino an der Kasse seines Schnellrestaurants vor – und die Kassensoftware stürzt ab…)

Schon füllt sich das Haus wieder mit Kindern, Freundinnen und Freunden von Kindern, mit Kochen, und Wäschewaschen, mit Hausaufgaben, mit Trost geben und mit Warten und Einkaufen und Hundespaziergängen neben Zoom-Meetings, Mailverkehr, Sprechstunden und Gutachten und … Aber bleiben wir einmal bei den Kindern.

Oder vielleicht bei der Steuererklärung.

Denn die kommt nun auch gerade ins Haus als eine erste Erinnerung an die staatsbürgerliche Pflicht. Das ist auch keine grosse Sache. Ich zahle gerne Steuern, also jedenfalls grundsätzlich.

Mit der Steuererkärung kommt die behördliche Demütigung.

Als ich vor wenigen Wochen meine übliche Hunderunde machte, hörte ich ein mir nicht vertrautes Vogelgeplapper, und während ich mich dem Buschwerk auf Weissdorn, jungem Walnussbaum und allerlei anderem Strauchwerk näherte, flog plötzlich ein Ball aus allerlei Vögeln auf, deren Unterseiten hell blinkten, und die ich zu einer anderen Jahreszeit und bei etwas dunklerem Gefieder wohl für Stare gehalten hätte. Sie waren aber kleiner, heller, aber auch dunkel gepunktet. Für mich war die Erscheinung ganz überraschend, doch musste sie namenlos bleiben. Ich hatte dann doch zu wenig gesehen und war auch zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt.

Dem fröhlichen Gefieder wäre es wohl gleichgültig, wenn ich sie einfach Spatzen, Sperlinge, oder „so kleine Vögel halt“ genannt hätte…

Im Zoo gibt es ja eine Beschilderung, die auch den Neulingen – bestehend aus jungen Familienvätern etwa oder pubertierenden Pärchen – Hinweise darauf geben, was für ein Tier denn nun gerade zu sehen sein sollte. Das hindert freilich schlichtere Gemüter nicht daran, ihren Kindern einfach zuzurufen, sie sollten doch mal den Tiger ansehen, der sehe doch so gefährlich aus („Grrrr!“). Aber eigentlich handelt es sich dann um den Schneeleoparden, der einige ganz entscheidende Unterscheidungsmerkmale zum Tiger aufweist. Naja, dem Leoparden ist es gleich. Es ist eher eine Frage einer wertschätzenden Erziehung, den korrekten Namen zu nennen, vielleicht sogar das Schild zu lesen (und das eigene Unwissen nicht mit sprachlicher Sorglosigkeit zu kaschieren): Ich schätze Dich, Kind, und schenke Dir meine Bemühung, Dir den richtigen Namen dieses Tieres zu nennen. (Noch schöner: „Komm, wir schauen gemeinsam nach, was das für ein Katzentier ist.“)

Fassungslos schaute ich damals in den gleichgültigen Gesichtsausdruck des Jungen, dessen Mutter vor diesem wunderschönen Tukan mit seinem bananenförmig gebogenen Riesenschnabel ausrief: «Schau mal, ein Papagei.»

Es ist das wunderbare Geschenk einer differenzierten Sprache, die wir einfach erben und weiterformen dürfen, das es uns erlaubt, präzise zu sein, den Blick für die Wirklichkeit zu schulen. Heute müssen wir nur noch von den Stimmen der Wähler sprechen, wenn wir historische Entscheide vor 1971 bezeichnen. Wir dürfen sogar euphemistisch von Lehrpersonen reden, obwohl an Primarschulen Lehrer in kaum mehr relevanter Grössenordnung existieren. Und wenn wir von Studierenden und Wissenschaftler*innen sprechen, können wir uns die umständlichen Fussnoten sparen, in denen darauf hingewiesen wird, dass Frauen eben mitgemeinte Männer seien oder so etwas in der Art.

Sicher: Die Sprache ist der äussere Ausweis unseres Vermögens differenzierte Denkleistungen zu erbringen, und alles, was wir wirklich von Sprache erwarten dürfen, ist präzise zu sein. (Das Gegenteil von präzise wäre irrational, verworren, mythisch, ungebildet, unsicher, gestrig … oder einfach unrichtig. Im Volksglauben bezeichnet man eine unpräzise Kommunikation auch gerne als gewohnt, traditionell, heimatlich und meint damit einen Sprachstand eigener längst verblasster Schulbildung.)

Ich nehme an, es hat sich um einen ganzen Schwarm Erlenzeisige gehandelt, der aus dem Strauchgewirr aufflog in einem hell blinkendem Ball und zunächst in der vereinzelten Linde Unterschlupf suchte.

Aber eben die Steuererklärung. Als Vater, der sich zwar in Serie als mehr oder weniger unzulänglicher Lebenspartner erwiesen hat, sich aber doch mit Herzblut, Zuwendung, Zeit und selbstverständlich auch finanziellen Mitteln seiner Vaterrolle widmet, gerate ich beim Ausfüllen der Steuererklärung jeweils in eine grössere Sinnkrise. (Gut, die Sinnkrise beginnt schon beim Wort Vaterrolle, die traditionell alles bezeichnen kann vom alleinigen gestrengen Erzieher über den strafenden Arm der Mutter bis zu deren verständigerem Gegenpart. „Frau Vorstandvorsitzende, worin sehen Sie das besondere Ihrer Mutterrolle gegenüber der Vaterrolle Ihres Künstlermannes?“)

Nur ein erbärmlicher Misanthrop kann ein Kind dazu bringen, einen Leoparden Tiger zu nennen, und einen erziehenden Vater von vier Kindern per Steuererklärung dazu zwingen, sich als allein lebend ohne Kinder anzuzeigen.

Ich gebe zu, dass ‘erbärmlicher Misanthrop’ ein unpräziser Ausdruck ist, wenn er nicht nur eine emotionale Haltung, sondern einen äusserlichen Umstand bezeichnen soll. Vielleicht könnte man es mit Luhmann versuchen. Systemtheoretisch ist es vollkommen nachvollziehbar, dass ein Steuersystem die Zuordnung von Kindern nicht anders als unter dem finanziellen Aspekten steuerlicher Zuständigkeit sehen kann. Wer Kindesunterhalt zu leisten hat, hat keine Kinder. Ist ja steuerlich ganz klar… Wer Kindesunterhalt zu zahlen hat und gleichzeitig einen nicht unerheblichen Anteil an der Erziehung der Kinder leistet, mit ihnen gar eine Teilzeitwohngemeinschaft bildet, hat steuerlich auch keine Kinder, denn steuerlich sind andere als finanzielle Zuwendungen von der liebevollen Umarmung bis zum Wäschewaschen gar nicht erfassbar. (Und damit sind auch die Empfänger*innen dieser Zuwendungen, also die Kinder, eben nicht existent.)

Vom Ideal einer geteilten Elternschaft ist die dafür inzwischen mehrfach gerügte Schweizer Rechtspraxis ja ohnehin weit entfernt; steuerrechtlich wäre ein solches utopisches Konzept wohl auch eine zu grosse Zumutung: Müsste man dann einmal angeben: „zusammenlebend mit vier halben Kindern“? (Und immerhin ist es ja schön, dass man unter aufgeklärten Erwachsenen Lebensmodelle leben kann, welche die Steuerbehörde und die familienrechtlichen Behörden mit Heim und Herd zum Erröten bringen müssten.)

Mir schwirrt der Kopf zwischen Semestervorbereitung und Erlenzeisigen, Wäschebergen und Steuererklärung… Das Haupt mit den kreisenden Gedanken in den Händen träume ich von einer Welt, in der die so belasteten Wörter Mutter und Vater nicht mehr existieren, kein Elter alleinerziehend ist, dessen oder deren Gegenelter noch lebt und bekannt ist, und die Steuerbehörde in lebensweltlichen Kategorien denkt.

Es ist ein Unterschied zwischen Grünfinken und Erlenzeisighähnen, zwischen Wählern und Wähler*innen, zwischen Lehrpersonen und Lehrerinnen, zwischen Schneeleoparden und Tigern, zwischen Tukan und Papagei, zwischen einem alleinstehenden Mann ohne Kindern und einem Elter mit vier Kindern…

Punkt.

Der Schnee ist noch nicht geschmolzen. Draussen streiten zwei Spatzenhähne um einen biegsamen, etwa eine Elle langen dünnen Ast auf dem Handlauf des Balkongitters. Jeder zieht an seiner Seite, bis sie beide gemeinsam den Halt verlieren und ohne auch den Ast aus dem Schnabel rutschen zu lassen, gemeinsam eine Weile taumelnd herumflattern, bis sie aus meinem Gesichtsfeld verschwunden sind.

Es braucht die Spatzen, aber die Sprache auch, mit der man diese dann beschreibt… als Zuflucht vor den schwirrenden Gedanken.

[cite]

Christian von Zimmermann ist Dozent für Neuere Deutsche Literatur und Editionsphilologie am Institut für Germanistik und am Walter Benjamin Kolleg der Universität Bern.
Seit 2020 führt er den Blog "LITERATURFORUM.CH". Auskünfte über seine akademische Tätigkeit gibt auch die private Homepage: vonzimmermann.ch