Allgemein, verschroben

Der König der Spatzen

An einer kleinen Nebenstrasse am Rand meiner Stadt da steht ein Haus. Geht wer vorbei, schaut sie oder lugt er nach dem Treiben der Spatzen. Zuerst hört man nur den Lärm: das rastlose Gezwitscher der Haussperlinge. Rings ist es still, aber hier herrscht selbst im Winter munteres Vogeltreiben. Gehen zwei vorbei und stösst sie ihn an, weist sie dann auf das Haus und sagt irgendetwas dazu. Ich stelle mir vor, sie flüstert: „Da wohnt der König der Spatzen.“

Manchmal kann man ihn sehen. Dann geht der König der Spatzen mit einem breitkrempigen braunen Hut und einer windfesten Jacke mit seinem cremeweissen Hund über die nahen Feldwege. Mal geht er zügig, mal schlurft oder hinkt er etwas. Keiner würde ihn für einen König halten, eher für einen verschrobenen Hagestolz. Ein schönes Wort Hagestolz. Nur darum steht es hier.

Die Spatzen haben sich in seinem Garten schnell eingebürgert. Oder eigentlich haben die Spatzen ja ihn eingebürgert. Denn er ist ja – oder war es zumindest lange Zeit: der Fremde. Ein bisschen sieht er auch noch so aus. Ist der echt aus Deutschland? Geht er da wieder hin?

Einmal während der Pandemie wurden die Grenzen geschlossen nach Deutschland. Da stand der König der Spatzen mit seinem breitkrempigen braunen Hut im Supermarkt an der Kasse und kaufte ein: Hundefutter für den Hund, Vogelfutter für die Spatzen und ein veganes Poulet für sich. Zwei gewechselte Worte genügten, da hatte die freundliche Kassiererin ihn erkannt: „Da können Sie ja jetzt gar nicht mehr nach Hause.“ Da murmelte der König der Spatzen nur, er sei ja zu Hause, dachte an seine Spatzen und seinen Hund und sein Häuschen in einer kleinen Nebenstrasse am Rand in seiner Stadt. Vielleicht dachte er, die Spatzen könne er ja nicht mitnehmen, die hätten ihn ja auch schon längst eingebürgert, und die verstehe er nicht einmal.

Mit Frauen hat der König der Spatzen nicht so Glück gehabt wie mit dem Federvolk. Dafür hat er Kinder, fast wie das kleine Starenvölkchen, das ab und an zwischen den Spatzen im Garten einfällt und munter plappert. Da sieht man den König mit seinem breitkrempigen Hut und dem faltigen Gesicht lächelnd daneben stehen. Dann zieht die schillernde Schar wieder weiter. Heimlich träumt der König der Spatzen davon, auch noch Starenkästen im Garten aufzuhängen. Aber das macht er dann nicht. Der Garten gehört ja den Spatzen.

Einmal während der Pandemie sah der Mann mit seinem braunen Hut und einem Mund-Nasen-Schutz beim Einkaufen mitten im Supermarkt zwischen Frischpasta und veganem Schnitzel einen Vogel hüpfen. Es war ein sehr grosser Vogel und mit ruckenden Kopfbewegungen und gehetztem Blick hüpfte er auf seinen zwei Beinen zwischen den Regalen herum, nahm hier etwas heraus und zog dort etwas hervor. Das Besondere an diesem Vogel war, dass man seinen Schnabel mitten im Supermarkt sehen konnte, denn er trug ja keinen Mund-Nasen-Schutz. Aber eine Maske trug er. So eine Augenmaske wie Zoro; so eine, wie sie aus Tischbomben kommt. Auch die Spatzen tragen so ein dunkles Band um die Augen. Nun hüpfte der Arme wie ein Vogel mit seiner vogeläugigen Maske durch den Supermarkt. Ganz aufgeregt, ob ihn denn niemand bemerken wolle, damit er endlich sagen könne: Doch, er trage ja eine Maske. Der König mit dem Hut stand da, schüttelte erst ganz wenig den Kopf und dachte dann an die Spatzen und Meisen und Erlenzeisige und Amseln und Rotkehlchen, die im Winter nervös über das Balkongeländer hüpfen, bis sie sich an das Futterhäuschen trauen. Da lächelte er, und man hätte es ihm ansehen können, dass er dem armen grossen Vogel gerne mitten im Supermarkt ein paar Sonnenblumenkerne oder Hanfsamen hingestreut hätte, um ihn zu beruhigen.

Manchmal wenn wieder ein Paar am Garten stehen bleibt und mit dem Finger auf das Haus des Fremden mit seinen Spatzen weist und zählt, auf wievielen Balken wohl Nester zu finden sind, dann entdecken sie vielleicht den König mit lehmigen Schuhen und dornenzerstochenen Händen im Garten, oder er blickt über den Rand dicker roter Bücher von einem Gartenstuhl auf den Weg. Dann gehen die Finger in allerlei Richtungen: zum Himmel, zum Bahndamm, zum Nachbarn oder wenigstens auf die Wiese, und schnell huschen die Spazierenden vorbei, während die Haussperlinge in wildem Geflatter durch den Garten sausen.

Im Frühjahr ist Unruhe im Spatzengarten, denn zwei vorwitzige Kohlmeisen haben sich an ein Nisthaus getraut. Nun schimpfen und zetern die Spatzen, versuchen die Meisen zu vergrämen. Da schaut der König mit seinem Hund aus dem Fenster und möchte mit gütiger Hand ein friedliches Königreich stiften. Aber im Reich der Spatzen hat der alte König mit dem breiten Hut – älter jedenfalls als je ein Sperling – ganz offenbar nichts zu bestimmen.

Am Rand der Stadt in einer kleinen Nebenstrasse, da steht mein Haus. Geht wer vorbei, zeigt er oder weist sie mit dem Finger darauf und flüstert vielleicht. Dann denke ich, wie es wäre, wenn sie sich sagten: „Da wohnt der König der Spatzen.“

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Christian von Zimmermann ist Dozent für Neuere Deutsche Literatur und Editionsphilologie am Institut für Germanistik und am Walter Benjamin Kolleg der Universität Bern.
Seit 2020 führt er den Blog "LITERATURFORUM.CH". Auskünfte über seine akademische Tätigkeit gibt auch die private Homepage: vonzimmermann.ch