Allgemein, Beim Lesen

Chinoiserie 2021

Ein lichtflirrender Garten, ein Pavillon aus Porzellan, eine Jadebrücke geschwungen wie ein Tigerrücken und ein fröhlich trinkender und dichtender Freundeskreis: So stellte sich das frühe 20. Jahrhundert die Welt des chinesischen Dichters Li Bai im 8. Jahrhundert vor. Fein zisilierte Lichteffekte, ein die Sonne, ein das Blumendekors und die grün belaubten Bäume reflektierender Teich runden das Bild ab, das zahlreiche Nachdichter Li Bais vermittelten.

Berühmt ist diese Szenerie nicht zuletzt – aber nicht allein – durch Gustav Mahlers Lied der Erde. Mahler adaptierte und änderte dafür den Liedtext eines der wirkmächtigsten Nachdichter, die Verse von Hans Bethge (1876–1946), dessen Bändchen Die chinesische Flöte 1907 im Insel-Verlag erschienen ist.

Mitten in dem kleinen Teiche
Steht ein Pavillon aus grünem
Und aus weißem Porzellan.

Wie der Rücken eines Tigers
Wölbt die Brücke sich aus Jade
Zu dem Pavillon hinüber.

In dem Häuschen sitzen Freunde,
Schön gekleidet, trinken, plaudern, –
Manche schreiben Verse nieder.

‹…›

(Hans Bethge, Die chinesische Flöte)

Noch im selben Jahr hat Mahler die ihm gebotenen Perlen der ostasiatischen Poesie aufgegriffen. Der österreichische Illustrator Arthur Paunzen (1890–1940) schuf einen sechsteiligen Stichzyklus zu den sechs Liedern im Lied der Erde und setzte auch den Pavillon mit seinen leichten Brücken, der Freundesgruppe, die sich im Teich spiegelt, wirkungsvoll in Szene. Jugendstilelemente und Chinoiserie begegnen sich in seinen Illustrationen, von denen drei nach einem glücklichen Auktionsfund nun meinen Wohnraum mit märchenhafter Ostasiatik schmücken.

Auch zahlreiche weitere Dichter folgten den ausgelegten Spuren: so Klabund (1890–1928), dessen 1916 zuerst erschienenes Bändchen Li-tai-pe in einer der erfolgreichsten Publikationsreihen der deutschen Buchgeschichte – in der Insel-Bücherei – zu einem Longseller wurde. Weit über den deutschsprachigen Raum hinaus wurde sein Band zu einem Symbol vitalistisch-expressionistisch-exotistisch-spiritueller Lebenshaltung. Klabunds Nachdichtung Der Pavillon von Porzellan verbindet Bethges Vorlage mit eigenen Erkundungen zu Sprache und Bildhaftigkeit chinesischer Literatur.

In dem künstlich angelegten Teiche
Auf der Insel steht der Pavillon von grün und weißem Porzellan.
Man gelangt in seine gläsernen Bereiche
Über eines weißen Tigers Rücken, der sich hier als Brücke aufgetan.

‹…›

(Klabund, Li-tai-pe)

Der Porzellanpavillon ist so präsent in der Literatur und Kunst, dass er anzitiert werden kann wie ein antiker Mythos, ein biblisches Gleichnis oder ein Sagen-, Legenden- oder Märchenmotiv.

Umso erstaunlicher ist es, dass für diese Verse lange Zeit keine Vorlage Li Bais aufgefunden werden konnte. Der Ursprung dieser Bilder, die sich längst verselbstständigt haben, schien ganz in der Phantasie einer ersten Nachdichterin zu liegen. Diese freilich ist zu beneiden, denn sie schuf eines der wirkmächtigsten europäischen Kulturerzeugnisse des 19. Jahrhunderts. Die Rede ist von Judith Gautier (1845–1917), der offenbar sehr begabten Tochter des Dichters Théophile Gautier, die gemeinsam mit einem chinesischen Sprachlehrer die chinesischen Dichtungen erkundete und mit 22 Jahren ihre französischen Nachdichtungen als Le livre de jade (1867) publizierte. Hier findet sich eine Prosaversion des Pavillongedichtes mit allen Elementen, die die späteren Nachdichter, Zeichner und Komponisten begeistert aufnahmen.

Au milieu du petit lac artificiel s’élève un pavillon de porcelaine verte et blanche; on y arrive par un pont de jade qui se voûte comme le dos d’un tigre.

Dans ce pavillon quelques amis vêtus de robes claires boivent ensemble des tasses de vin tiède. ‹…›

(Judith Gautier, Le livre de Jade)

Allein: Die Forschung hat für Gautiers Text zunächst keine Vorlage in den von ihr benutzten chinesischen Überlieferungen gefunden. Jedes einzelne der typisch wirkenden Elemente schien ihrer chinoisen Phantasie geschuldet zu sein. Als man schliesslich doch ein geradezu unscheinbares Gedicht entdeckte, das man seither für die Vorlage hält und von dem – wenn ich es richtig deute – womöglich nicht einmal sicher gesagt werden kann, ob es überhaupt Li Bai zuzuschreiben ist, musste man diese Annahme nicht korrigieren: Das Gedicht beschreibt einen stillen Garten, lädt in die Gartenstille zu einem Zusammentreffen ein, aber weder der lichterfüllte farbige Raum noch die Tigerbrücke oder der Porzellan-Pavillon entstammen dem Original. Die Übersetzung Porzellan gilt heute als falsche Deutung eines Familiennamens Tao, der nur in bestimmten Kontexten auch Porzellan bedeuten kann.

Winding path; private residence in quietude
Tall gate; great scholar’s home
Open pond mirrors reflection
Protruding forest trees intersperse with colorful flowers
Turquoise water hides the Spring sun
Green room camouflages evening amber
If strings and woodwinds are delightful to hear,
Unmatched by “golden valley”

(Übersetzer*in unbekannt)

(Aber was hat dies jetzt mit den Spatzen im Garten des Bloggers zu tun? Geduld.)

Für Übersetzungswissenschaftler*innen eröffnet sich hier ein spannendes Feld. Ohne Frage.

Für den grossen Rest der auch literaturwissenschaftlich Interessierten endet die Reise an dieser Stelle. Ich habe keine Sprachkenntnisse und sitze mit einem eher ambivalenten Gefühl vor den acht mal vier Schriftzeichen, die das Gedicht in der Vorlage ausmachen und die ihm einen blockartigen Charakter verschaffen. Man hat – als Schriftunkundiger – unweigerlich den Eindruck, es müsse sich um eine unverbundene Reihe einzelner Bilder handeln.

Für eine nähere Begegnung ist sinologische Hilfe nötig, und immerhin gibt es Fachliteratur in deutscher und englischer Sprache, die auf der Basis heutigen Wissens Erklärungen bietet. Es geht einem nicht viel besser als den früheren Nachdichter*innen, welche noch weniger eine Chance hatten, das Vermittlungswissen der zugänglichen Literatur gegen eine eigene Textkenntnis zu prüfen.

Folgt man den Versuchen möglichst naher Übersetzungen, die es inzwischen gibt, so fällt auf, dass in diesem Gedicht, das durch seine erste französische Nachdichterin und deren Nachfolger zu Weltruhm gelangte, keine chinoisen Elemente zu finden sind. Stattdessen breitet sich im Text eine eher biedermeierliche Gartenstille aus, die Zeichen der Wohlhabenheit (in einigen Übersetzungen auch der Gegenwart von Gelehrsamkeit) trägt und zugleich menschenleer ist. Der Titel verweist auf ein Bankett bei der Familie Tao. Im Text ist zub diesem Bankett nichts zu lesen.

Der Widerspruch liesse sich lösen: Die Stille des Gartens bietet sich Freunden oder Fremden an, die zum Verweilen eingeladen werden. Wenn der Begriff Bankett nicht metaphorisch verstanden werden kann und auf ein Bankett der Stille und des Gartens verweist, so muss er etwas Zurückliegendes oder Kommendes bezeichnen. Entweder ist die Stille endlich wieder hergestellt oder sie ist eben selbst die Einladung.

Ist irgendetwas daran typisch chinesisch? Wie soll diese Frage beantwortet werden, wenn es um ein uns – von einem kleinen Kreis der Spezialist*innen ausgenommen – vollkommen unbekanntes China des 8. Jahrhunderts geht, von dem wir im heutigen China kaum hoffen dürften, auch nur einen Krümel zu erhaschen. Weder das China Li Bais, noch das China der chinoisen Dichtungen haben einen Ort in unserer Realität.

Alles, was sich ohne sinologische Fachkenntnisse hier allenfalls als repräsentativ erahnen liesse, kann nichts anderes sein als eine Verbindung mit stereotypen Wissensständen. Judith Gautier muss sehr genau empfunden haben, dass diese Verse kulturell viel zu blass sind, um sie als chinesische Dichtungen anbieten zu können, und sie schuf mit ihren eigenen Phantasien von einer chinoisen Märchenidylle einen zerbrechlichen Märchenraum, der weltliterarisch nachhaltig wirksam wurde.

Dennoch können diese Verse, die einen schönen aber leeren Garten beschreiben, berühren: Schaut her, ich habe diesen schönen Garten, aber er ist leer und wartet auf Gäste, die vielleicht meinen Gartenbesitz bewundern, aber vor allem dessen Stille und Blumenpracht geniessen sollen.

Mein Garten zwischen Bahndamm und Haus kann sich mit dieser Pracht nicht messen. Eine Stille, wie in Li Bais lautlosem Gedicht, wird auch vom Gezeter und Geflatter der Kleinvögel verunmöglicht. Aber das Bild des Gartens als unerfüllte Einladung drängt sich mir auf, und als Stimmung, die ich im Gedicht in dieses Frühjahr 2021 transportiere.

Mit sanftem Schwung senkt sich der kiesige, dann auch geteerte Landweg.
Bald hinterm Hof führt er zur quietschenden Pforte am Wohnhaus.
In Mörtelbottichen reflektier’n sich dunkel, noch laublos, Strauchwerk
und Rosen, Grashalme, Narzissen, ein hölzerner Buddha. Kein Gast
sitzt neben Teichrosen und sieht, dass die Sonne sich spiegelt. Frühlings-
gelb blüht die Forsythie, ergrünt eine Weide. Der Spatzen Nisttrieb
erobert laut tschilpend die Soundscape. Ich grüss’ übern Zaun aus
Distanz die spazierenden Maskenbewehrten auf ihrem Fussweg.

(CvZ, 23. März 2021)

[cite]

Christian von Zimmermann ist Dozent für Neuere Deutsche Literatur und Editionsphilologie am Institut für Germanistik und am Walter Benjamin Kolleg der Universität Bern.
Seit 2020 führt er den Blog "LITERATURFORUM.CH". Auskünfte über seine akademische Tätigkeit gibt auch die private Homepage: vonzimmermann.ch